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CES 2023: All-in!

„All in“ – normalerweise hört man dieses Kommando in Las Vegas vor allem an den Spieltischen. Denn wann immer ein Zocker von seinem Sieg vollständig überzeugt ist, dann geht er aufs Ganze und setzt mit diesem „All in“ sein gesamtes Guthaben. Doch Anfang Januar schallt dieser Ruf lautstark auch aus der imposanten Westhall des Las Vegas Convention Centers. Dort hat die Automobilindustrie ihre neue Heimat auf der Elektronikmesse CES gefunden, die Herausforderungen von Mobilitätswende und Digitalisierung angenommen und sich mit einem „All in“ felsenfest zur Zukunft bekannt.

 „Früher galten die Autobauer als verstaubte Hardware-Hersteller“, sackt Gastgeber und CES-Chef Gary Shapiro. „Doch mittlerweile sind sie Tech-Giganten, die einen großen Beitrag dazu leisten, dass unsere Welt sicherer, sauberer, komfortabler und unterhaltsamer wird“, lobt der Präsident des mächtigen Industrieverbandes die vermeintlichen Blechbieger und gewährt ihnen immer mehr Raum: Während herkömmliche Automessen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wird die CES deshalb zum heimlichen Highlight im Autojahr, bei dem mehr Showcars und Designstudien gezeigt werden als etwa bei der IAA in München oder der LA Autoshow. Vom Genfer Salon ganz zu schweigen. Der ist schließlich schon wieder abgesagt.

Allerdings geht es bei dieser Motorshow im Tarnkleid längst nicht mehr um Motoren – und wenn, dann allenfalls um welche mit Kupferspulen statt Kurbelwellen. Sondern während die elektrische Revolution in Las Vegas schon so selbstverständlich ist, dass kaum mehr einer drüber spricht, pflegen die PS-Giganten hier lieber ihren Start-Up-Spirit, flirten mit den Nerds und geben sich überraschend verspielt. Da inszeniert BMW schon mal eine Lovestory um die Vorstandsrede und holt dafür Knight Rider, einen alten VW Käfer und Arnold Schwarzenegger auf die Bühne und Mercedes ist auf den Hund gekommen und hat auch noch Spaß dabei.

Digitalisierung ist dabei das alles übergreifende Thema und die Königsdisziplin für eine erfolgreiche Zukunft, sagt zum Beispiel BMW-Entwicklungsvorstand Frank Weber und rollt als Beweis die Studie i Vision Dee auf die Bühne. Diese Vision für eine „Digital Emotional Experience“ ist nicht nur der eindrucksvolle Beweis dafür, dass sie in München doch noch Autos zeichnen können, die begeistern statt provozieren. Und die ein halbes Jahrhundert in die Zukunft gebeamte Neuinterpretation eines BMW 2002 ist auch mehr als der bislang konkreteste Ausblick auf die sagenumwobene Neue Klasse, mit der BMW zur Mitte der Dekade die nächste Stufe der elektrischen Revolution zünden und erst einmal 3er und X3 ersetzen will. Sondern mit dem Showcar demonstrieren die Bayern in der Spielermetropole auch, wie sie bei ihren künftigen Modellen Wirklichkeit und Vision, Realität und Animation verschmelzen wollen.

„Mixed Reality Slider“ heißt das zentrale Bedienelement, das im ansonsten vollkommen nackten Cockpit des handlichen Viertürers aufflammt und das Mischungsverhältnis zwischen realer und virtueller Welt regelt. Je nachdem, wie weit der Finger des Fahrers über die Leuchtleiste gleitet, beschränkt sich die Darstellung deshalb auf klassische Anzeigen relevanter Fahrinformationen, blendet die Inhalte aus den digitalen Kommunikationskanälen der Insassen ein, taucht in deren Social Media-Welten ein oder lässt die reale Umgebung in fast schon psychedelische Phantasien voller Pril-Blumen übergehen. Und dabei beschränkt sich die Darstellung nicht auf die üblichen Displays. Sondern anstelle eines Bildschirms hinter dem Lenkrad und einer Flimmerfläche im Armaturenbrett bespielt BMW bei der Studie die gesamte Innenseite der Frontscheibe, die mit einer besonders platzsparenden Anzeigetechnik zum vollflächigen Head-up-Display wird. Parallel dazu kann die wahre Welt mit dimmbaren Scheiben Schritt für Schritt ausgeblendet werden. Und die individuelle Mischung aus realer und virtueller Welt ist nicht die einzige Besonderheit: Sondern genau wie die Leuchtreklamen draußen auf dem Strip treibt es Studie bunt, sehr bunt sogar. Denn nachdem die Bayern die CES-Gäste im letzten Jahr mit ihrer schwarz-weißen Farbwechsel-Technologie überrascht haben, wurden die so genannten e-Ink-Folien nun weiterentwickelt und der i Vision Dee wird zum Chamäleon, das auf Knopfdruck in 32 unterschiedlichen Farben flimmert. Dass der Kühlergrill virtuelle Grimassen schneidet und so in den Dialog mit der Umwelt eintritt, ist das fast schon nebensächlich.

Ganz so weit wie BMW sind die anderen deutschen Aussteller in Las Vegas– zumindest in diesem Jahr – eher nicht. Denn VW zeigt im Vorgriff auf die Weltpremiere des ID.7 als ernsthaftem Tesla Model 3-Gegner mit 700 Kilometern Reichweite und endlich auch einem bedienbaren Bediensystem einen Prototypen, der nur wegen seines Lackes auffällt, weil der auf Knopfdruck zwischen zwei Dutzend Farben changieren kann. Und frühere Stammspieler wie Audi und Mercedes lassen sich nicht nur die Butter vom Brot, sondern gleich das ganze Brot vom Teller nehmen. Denn die Bayern sind nur auf dem Stand der glücklosen VW-Software-Tochter Cariad vertreten und lösen das Versprechen einer Holoride-Serienlösung mit spielerischen VR-Erlebnissen auf der Rückbank ein. Und Mercedes hat zwar mit einem ins Hier und Heute und bald auch auf die Bildschirme des Autos geholten Wackeldackel einen echten Sympathieträger am Start und mit der Ankündigung eines weltweiten, eigenen Ladenetzes im Stil der Tesla Superchagrer auch eine wichtige Botschaft. Aber ansonsten zeigen die Schwaben nur Autos, die auf der Zeitleiste der CES-Gäste fast schon als Altmetall durchgehen. Mit dem EQXX jedenfalls macht man hier keine Schlagzeilen mehr und mit einem EQS SUV erst recht nicht. 

Eine Überraschung ist dagegen der Auftritt des Stellantis-Chefs Carlos Tavares. Klar, er ist auch Boss von Chrysler, Ram, Jeep und Dodge und hat deshalb alles Recht der Welt zu einer Keynote vor ganz großem Publikum. Und ein ebenso sauberer wie smarter Elektro-Pick-Up wie der Ram 1500 Revolution als überfällige Antwort auf den Ford F-150 Lightning passt mit riesigen Bildschirmlandschaften und 130 kWh Akkukapazität auch gut auf die Tech-Show. Doch hat Tavares auch einen neuen Peugeot mitgebracht und muss diese Marke den meisten Messegästen erst einmal erklären. 

Aber die CES ist ja trotz über 150.000 Besuchern auch ein digitales und damit globales Event und in Europa wird man die Botschaft schon verstehen, dass es jetzt endlich eine dezidierte Elektroplattform gibt, auf der ab 2025/26 Marken wie Opel, Citroen, DS und eben auch Peugeot dann tatsächlich konkurrenzfähige E-Autos mit alltagstauglichen Ladeleistungen und Reichweiten von bis zu 800 Kilometern bauen können. Und egal, ob sie das Löwenlogo jetzt kennen oder nicht, wissen auch die Amis das spektakuläre Design des rasiermesserscharfen Coupés zu würdigen, schmunzeln über eine Fensterkuppel mit dem gleichen Isolierglas wie bei den Helmen der Nasa und staunen über die nächste Evolutionsstufe des i-Cockpits, das mit Steer by Wire-Technik zu einer Art Spielekonsole für den Straßenverkehr wird. 

Ja, der Peugeot Inception kann auch autonom fahren, der Jeep Wrangler lässt die Wanderer in der Wildnis künftig am Trailhead raus und sammelt sie am Ziel wieder ein und der Ram folgt im seinem Fahrer etwa auf der Farm oder der Baustelle in Schrittgeschwindikeit wie ein treuer Hund an der Leine. Doch im Großen und Ganzen ist autonomes Fahren in diesem Jahr für die Autohersteller selbst kein Thema. Das heißt allerdings nicht, dass es in Las Vegas keine Roboter auf Rädern gibt. Denn erstens ringen die Zulieferer mit smarter Software, schlauen Sensoren und starken Prozessoren um lukrative Aufträge für kommende Assistenzsysteme und Autopiloten, zweitens drängen stattdessen führerlose People Mover und Lieferwagen für die letzte Meile auf die Überholspur, und drittens ist da ja auch noch Caterpillar, der das wahrscheinlich größte Robotaxi der Welt präsentiert – und davon schon fast 300 im Einsatz hat. Denn vor allem in Amerika und Australien steuert der Computer riesige Muldenkipper durch Minen und Bergwerke und kumuliert so jeden Tag mehr Kilometer als bei zwei Erdumrundungen zusammenkommen. 

Wie früher nur bei den Fernsehern und Küchengeräten, bei Smartphone und digitalem Sexspielzeug in der South, North und Central Hall herrscht deshalb jetzt auch in der Westhall für die Autohersteller hektische Betriebsamkeit auf der CES. Und statt als Verlierer abgeschrieben zu werden, mischen sich immer wieder neue Marken darunter. Das gilt nicht nur für Start-Ups wie den türkischen Hoffnungsträger Togg oder die holländischen Sonnenfreunde Lightyear, die in Las Vegas die Bestellbücher für ihr zweites Auto geöffnet haben und Ende 2025 mit einem Modell für unter 40.000 Euro an den Start gehen wollen, das dank Solarzellen auf der Karosse mit einer Akkuladung 800 Kilometer weit kommt und dreimal seltener an die Steckdose muss als ein Serienstromer. Sondern das gilt sogar für Elektronik-Giganten, die früher nur gelacht haben über Mercedes & Co. Denn wenn Sony jetzt nicht mehr nur Studien zeigt, sondern mit Honda einen Prototypen auf die Messe stellt, der in drei Jahren in Serie gehen soll, dann kann die Branche ja nicht ganz so aussichtslos sein. „All in“ – das heißt deshalb nicht nur, dass die Autobauer selbst voll auf die Zukunft setzen. Sondern das heißt auch, dass in der PS-Welt plötzlich wieder alle mitmischen wollen.

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