Gegen ihn sieht selbst der Lamborghini Urus noch zahm und zierlich aus. Denn nachdem Lotus jetzt das Tuch vom ersten SUV in einer über 50-jährigen Tradition vor allem leichter und schnittiger Sportwagen zieht, mag das zwar die Jünger des asketischen Firmengründers Collin Chapman irritieren, weil der Hoffnungsträger weder sonderlich schnittig ist noch sonderlich leicht, sondern im Gegenteil wohl knapp an die drei Tonnen herankommen wird und auf dem Boulevard die volle Breitseite probt. Doch alle anderen werden sich den Kopf verrenken und die Augen wund schauen nach dem neuen Blickfang auf der Buckelpiste. Den spektakulärer und vor allem provozierender als das 5,10 Meter lange Trumm aus dem Design-Zentrum in Hethel hat sich noch kein anderes SUV aus der Deckung gewagt.
Und trotzdem liegen die Dinge diesmal anders und Lotus provoziert mit gutem Gewissen. Denn wenn die Briten schon mit der leichten Lehre brechen und sich ab dem kommenden Frühjahr auf Neuland wagen, dann manchen sie das zumindest zukunftsfest – und deshalb elektrisch. Nicht umsonst gehören sie seit fünf Jahren zum chinesischen Geely-Konzern, der aus dem staubigen Sonderling von der Insel eine sportliche Luxus-Marke für die Generation E machen und den Briten deshalb gleich mal ein neues Entwicklungszentrum und eine neue Fabrik für runde 150.000 Autos im Jahr spendiert hat – allerdings nicht in ihrem schrulligen Königreich, sondern in der chinesischen Provinzmetropole Wuhan, die aus bekannten Gründen seit zwei Jahren in aller Munde ist.
Das erste Auto, das in dieser Konstellation entstanden ist und dort dann ab dem nächsten Frühjahr auch vom Band laufen soll, ist also – zumindest in der Lesart von Lotus – zugleich das erste elektrische Hyper-SUV und trägt den bezeichnenden Namen Eletre. Die neue Spitzenstellung in einem Segment, in dem es bis dato nur vergleichsweise nüchterne Autos wie den BMW iX oder den Audi e-tron gibt und selbst ein Mercedes EQS SUV vergleichsweise praktisch und pragmatisch auftritt, lockt Lotus mit einem Übermaß an Leistung und Fahrdaten, mit denen die Briten über ein paar Designdetails hinaus die Nähe zum Supersportler Evija unterstreichen wollen. Zwar reicht es nicht ganz für die 2.000 PS des ultimativen Tieffliegers, sondern es müssen um die 600 PS genügen. Doch erstens sinkt so der Preis auch von weit über zwei Millionen auf geschätzte 200.000 Euro.
Und zweitens dürfte der Eletre auch damit noch ganz vorne mitfahren: Von 0 auf 100 jedenfalls wird er es in weniger als drei Sekunden schaffen, versprechen die Briten. Und wer den Fuß nur lange genug stehen lässt, hat bald mehr als 265 km/h auf dem natürlich digitalen Tacho. Andere E-SUV verschwinden da meist schon im Rückspiegel und auch für Verbrenner wird die Luft in diesen Regionen langsam dünn. Die Energie für solche eine Raserei liefert ein Aku mit mehr als 100 kWh, der auf 800 Volt-Basis arbeitet. Er soll für rund 600 Kilometer reichen und auch beim Boxenstopp Tempo machen: Weil der Lotus mit bis zu 350 kW am Gleichstrom-Stecker zieht, fließt binnen 20 Minuten im besten Fall der Strom für 400 Kilometer.
Zwar verspricht Lotus ein direktes Fahrerlebnis fast so wie man es von Elise & Co kennt – wie auch immer das mit einem derartig großen und schweren Brocken gehen kann. Doch wissen die Briten selbst, dass individuelle Fahrfreude in diesem Segment nicht das allein seligmachende Kriterium ist. Deshalb rüsten sie den Eletre mit mehr Assistenzsystemen denn je und haben ihn mit einem versenkbaren Lidar-Sensor sogar fit gemacht fürs autonome Fahren. In gar nicht mehr allzu ferner Zukunft sollen die Kunden deshalb die Hände in den Schoß legen und den elektronischen Co-Piloten seinen Job machen lassen. Warum man dafür dann allerdings noch ein Hyper-SUV braucht, das wissen die Götter – oder eben die Chinesen. Und vielleicht sogar der gesunde Menschenverstand. Schließlich wird der Eletra weniger auf der Rennstrecke unterwegs sein als in der Rush Hour, wo das fahren nicht immer ein Vergnügen ist – selbst mit mehr als 600 PS.