In seinen ersten Leben hatte Marcel Fickler zu roten Ampeln ein eher distanziertes Verhältnis. Denn für einen Trucker gibt es kaum etwas Schlimmeres als das permanente Stop-and-Go. Beim Anhalten zischt es lautstark und die ganze Kabine zockelt, und wenn es dann endlich grün wird, dauert es ewig, bis die Fuhre wieder Fahrt aufnimmt. Doch seit der Mercedes-Werksfahrer auf dem Bock des elektrischen Actros sitzt, sehnt er sich förmlich nach dem Rotlicht. Denn flüsterleise und ohne das leidige Gezischel beleibt der Dreiachser an der Ampel stehen. Und wenn sie grün wird, fühlt sich Fickler eher in einem AMG als in einem Actros, so imposant ist seine Beschleunigung – zumindest, wenn man die 14 Tonnen bedenkt, die der Actros schon leer auf die Waage bringt. Von den noch einmal fast so vielen Tonnen, die an Ladung möglich sind, ganz zu schweigen.
War dieses Fahrgefühl bislang nur ausgewählten Pilotkunden vergönnt, die in den letzten Jahren mit einer Flotte von mehreren Dutzend so genannter Innovationsträger bereits über eine halbe Million Kilometer abgespult haben, können das jetzt bald mehr Trucker erleben. Denn in diesen Tagen beginnt in Wörth die Serienproduktion des leisen Riesen, und Mercedes dreht nach seinen Pkw nun auch den Lastern so langsam den Treibstoff ab: „Wir müssen anerkennen, dass Transport ein Teil des Problems ist, wenn es um den Klimawandel geht“, räumt Karin Radström ein. Doch ist die Chefin der Trucksparte überzeugt, dass Laster auch ein Teil der Lösung sein können und macht mit dem eActros deshalb jetzt den Anfang.
Technisch unterscheidet sich der eActros nicht viel von anderen Mercedes-Konversionen wie dem EQC oder dem EQA, nur dass hier die Dimensionen etwas größer sind. Wo früher der Dieseltank installiert war, hängen jetzt die Akku-Pakete am Leiterrahmen, und statt einer Kardanwelle läuft nach hinten nur noch ein dickes Kabel. Das versorgt zwei E-Motoren an der ersten der beiden Hinterachsen, die zusammen auf eine Dauerleistung von 330 und einen Spitzenwert von 400 kW kommen. Und wo sich die elektrischen Mercedes-Pkw mit einem Gang begnügen müssen, gibt es hier eine zweistufige Automatik, die für reichlich Punch beim Anfahren sorgt und bei Vollgas, oder das was die auf maximal 90 km/h limitierten Trucker so nennen, die Drehzahl drosselt. Selbst das weitgehend digitalisierte Cockpit mit seinen beiden großen Bildschirmen erinnert irgendwie an die MB-UX-Flotte, wenngleich es im Actros natürlich etwas nüchterner zugeht.
Die größten Unterschiede gibt es bei der Batteriekapazität: Angesichts seines Gewichts braucht der Actros für eine halbwegs praxisgerechte Reichweite viel mehr Energie als selbst der dickste elektrische Pkw. Schon bei der „kleinen“ Version des eActros sind deshalb drei Batteriepakete mit jeweils 105 kWh in den Rahmen geschraubt, und beim Top-Modell sind es derer sogar vier. In Summe sind das 315 oder 420 kWh und damit Reichweiten, die Mercedes bei durchschnittlicher Beladung mit 300 und 400 Kilometern angibt. Wer das Limit ausreizt, der muss mit etwa 20 Prozent weniger Reichweite rechnen. Und wer leer fährt, kommt im besten Fall mehr als 600 Kilometer weit. „Aber wer will schon mit einem leeren Truck fahren“, rückt Projektleiter Dalibor Dudic die Welt wieder zurecht. Hier geht es schließlich nicht in erster Linie um Reichweite, sondern um Rendite – und die ist mit einem leeren Frachtraum tendenziell eher bescheiden.
Mit Reichweiten auf dem Niveau eines EQA ist der eActros vor allem für den Verteiler-Verkehr gedacht, wo die typische Tagesdistanz bei oft nicht einmal 200 Kilometern liegt. Und weil die Ladeinfrastruktur für Laster noch vergleichsweise dünn und Testfahrer Fickler an den Hyperchargern im Land ein wenig gern gesehener Gast ist, sollen die eActros vor allem daheim oder während des Ladevorgangs beim Kunden laden. Bei bestenfalls etwas mehr als eine Stunde für den Hub von 20 auf 80 Prozent ist die Pause ja vergleichsweise kurz.
Doch Daimler will sich nicht im Kleinklein verlieren: Bis zur Mitte der Dekade haben die Schwaben auch einen elektrischen Sattelschlepper für den Fernverkehr mit rund 500 Kilometern Reichweite angekündigt und wollen parallel dazu gemeinsam mit der Konkurrenz analog zu Ionity in der Pkw-Welt ein eigenes Ladenetz mit 1.700 Säulen in ganz Europa installieren. Und die Brennstoffzelle kommt in der Kooperation mit Volvo ebenfalls voran und soll bis 2027 in Serie gehen.
Anders als bei der Pkw-Flotte hat sich Daimler Trucks Eigenheiten wie den EQ-Look, besonders strömungsgünstige Formen oder Finessen wie den geschlossenen Kühlergrill beim elektrischen Actros gespart. Selbst die Kameraspiegel dienen in erster Linie der Sicherheit, weil sie Leben in den Toten Winkel bringen, und nicht der Aerodynamik. Eine Schrankwand bleibt eben eine Schrankwand, auch wenn man ein paar Fugen kittet und ein paar Ecken abschleift.
Wie weit der eActros mit einer Ladung tatsächlich kommt, liegt natürlich vor allem an der Tonnage und der Topographie. Aber die größte Stellschraube ist der Fahrer: Genau wie der Pkw bietet auch der Truck eine Rekuperation und gewinnt seine Bremsenergie zurück. Und anders als die Fahrer bin EQS & Co sind die Trucker das sogar bereits gewöhnt. Denn geregelt wird das genau wie bis dato die Retarder genannte Motorbremse mit einem Hebel am Lenkrad.
Spätestens wenn er durch die Stadt fährt, wechselt Testfahrer Fickler aber am Touchscreen gleich ins Profi-Profil und überlässt der Elektronik das Kommando. Dann regelt der Actros die Rekuperation selbst und lässt problemlos mit einem Pedal fahren – bis er an der roten Ampel zum Stehen kommt und sich ein Lächeln auf Ficklers Lippen legt.
Denn jedes mal beim Anfahren freut sich der Testfahrer über die üppige Beschleunigung, schließlich hat er ganz früher tatsächlich mal bei AMG gearbeitet. Und dass man sich jetzt ganz normal mit dem Sozius unterhalten kann oder schlicht seine Ruhe hat, schätzt er genauso wie die Ruhe im Aufbau. Wo es ihn früher beim Anlassen erst einmal durchgeschüttelt hat und er die Vibrationen bei jedem Gasstoß bis ins Gesäß spüren konnte, würde ein Kartenhaus auf dem Armaturenbrett jetzt wahrscheinlich nicht einmal bei einem Kickdown umfallen, so wenig ist vom Antrieb zu spüren. Und das lauteste Geräusch an Bord ist das Klacken des Blinkers.
Die Begeisterung ist schön und gut und vielleicht sogar authentisch. Doch so gut der elektrische Actros bei den Fahrern ankommt und so tapfer sich im Alltag schlägt, hat die Sache einen Haken: den Preis. Der leise Riese kostet rund dreimal so viel wie ein vergleichbarer Diesel-Actros, räumt Projektleiter Dudic ein. Da helfen weder die zwei Tonnen zusätzliche Nutzlast, die der Staat dem Stromer als Kompensationen für die schweren Akkus schenkt, noch die Befreiung von der Lkw-Maut auf der Autobahn. „Natürlich haben große Speditionen ihre eigenen Umweltvorgaben und -projekte und kaufen deshalb auch mal einen eActros“, hat der Projektleiter gelernt. Doch weil ein Laster Profite ein fahren soll und nicht nur Prestige, sind die Absatzchancen in gegeben Rahmen eher bescheiden. „Da müssen alle an einen Strang ziehen und auch der Staat muss seinen Teil leisten, wenn wir den Systemwechsel beim Nutzfahrzeug schaffen wollen“, sagt Dudic deshalb. Dieser Ruf ist offenbar schon erhöht: Ab diesem Herbst übernimmt Berlin zumindest 80 Prozent der Mehrkosten eines elektrischen Lasters – und plötzlich werden Dudics Gespräche mit den Kunden schon sehr viel konkreter.