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Mercedes GLE: Wackelkandidat?

Wackelkandidat?

Der neue Mercedes GLE

Wer auf den Gipfel will, braucht normalerweise einen festen Tritt. Denn mit weichen Knien kann man den Sturm an die Spitze für gewöhnlich vergessen. Doch Mercedes gibt nichts auf diese Bergsteigerregel und macht den neuen GLE buchstäblich zum Wackelkandidaten. Denn es ist vor allem das aktive eABC-Fahrwerk, das den Wagen an jedem Rad binnen Sekundenbruchteilen um jeweils sechs Zentimeter anheben oder absenken kann, mit dem die dritte Generation des Geländewagens von Februar an zu Preisen ab 65.807 Euro an Konkurrenten wie dem neuen BMW X5, am Porsche Cayenne oder am Audi Q7 vorbeiziehen will.

Von Thomas Geiger
Herzstück des eABC sind vier elektrische Stellmotoren mit 48-Volt-Technik, die vom Bordrechner und einer Kamera gesteuert werden, die vorausschaut und Kurven genauso erkennen kann wie Unebenheiten oder Hindernisse. Die Idee ist nicht neu und in der S-Klasse gibt es so ein ähnliches System als Active Body Control (ABC) bereits seit einigen Jahren. Aber erst mit dem 48-Volt-Bordnetz können die Ingenieure Elektromotoren an die Federbeine flanschen, die schnell und stark genug sind für eine adäquate Regelung.

Zwar kann er damit auf Knopfdruck wirklich wackeln wie sonst nur ein aufwändig getunter Lowrider. Doch macht der GLE das nur zur Show oder wenn er sich im Dreck mal so richtig festgefahren hat. Aber damit kann er sich auch besser als jedes andere SUV in diesem Segment dem Fahrstil und der Fahrbahn anpassen und so eine deutlich weitere Spreizung seiner Fahrprofile bieten.
Im Gelände, wo er dank eines neuen, erstmals voll variablen Allradantriebs weiter kommt denn je, ist er deshalb sehr viel geschmeidiger unterwegs und stakst nicht mehr wie eine Bergziege über Stock und Stein. Und auf der Straße rollt er so sanft dahin wie eine große Limousine. Am meisten bringt das System allerdings im Curve-Modus, wenn sich der GLE um bis zu drei Grad in die Kurve legt – dem Fahrer, weil er damit förmlich über die Landstraße surft und sich die 2,2 Tonnen Auto plötzlich ungeheuer leicht anfühlen. Und den Passagieren, weil so die Querkraft deutlich reduziert wird und ihnen die Kurven weniger auf den Magen schlagen.
Und so gut sich der GLE auch als Abenteurer macht, ist er eben doch zuallererst mal Alltagsauto und Familienkutsche. Auch in dieser Disziplin legt der GLE übrigens noch einmal zu. Denn der Wagen bekommt nicht nur eine neue Form, die ein bisschen sportlicher aussieht und sehr viel schnittiger ist. Nicht umsonst sinkt der Luftwiderstand auf den klassenbesten cw-Wert von 0,29. Sondern der GLE des Jahres 2019 hat auch ein neues Format: Um acht Zentimeter haben die Schwaben den Radstand gestreckt, den Wagen um zehn Zentimeter in die Länge gezogen und bei nun 4,93 Metern innen deutlich mehr Platz geschaffen. So wächst die Beinfreiheit auf der erstmals elektrisch verschiebbaren Bank im Fond spürbar, der Kofferraum fasst jetzt 630 bis 2.055 Liter und zum ersten Mal bietet Mercedes nun die Option auf eine dritte Sitzreihe.
Zwar ändern sich die Platzverhältnisse in der ersten Reihe kaum. Doch dafür sitzt man vorne in einer neuen Welt. Nicht nur, dass man jetzt auf das Widescreen-Cockpit aus der A-Klasse schaut und die Touch- und Sprachbedienung von MB UX genießen kann. Sondern neuerdings reagiert das Infotainment auch auf Gesten von Händen und Armen. Außerdem gibt es wie in der S-Kasse neben der Sitzheizung auch Glühdrähte in den Armauflagen, das Infotainment bittet auf Knopfdruck zur Wellnessanwendung und, egal ob Kaffee oder Cola, die Getränke in den Becherhaltern behalten ihre Temperatur.

Auf den ganzen Komfort kann man sich im GLE besser konzentrieren als in jedem anderen Geländewagen von Mercedes – schließlich sind auch die Assistenten noch einmal deutlich schlauer geworden: Der Abstandstempomat erkennt Staus nun automatisch und lässt sogar selbständig Raum für die Rettungsgasse und wer beim Linksabbiegen den Gegenverkehr übersieht, wird jetzt automatisch eingebremst.
In Fahrt bringen den großen Schwaben dabei zunächst drei Diesel und ein Benziner. Für die Freunde des Selbstzünders gibt es als einzigen Vierzylinder den GLE 300d mit 245 PS oder den Reihensechser mit 272 PS im GLE 350d und 330 PS im GLE 400d. Wer sich den Spaß am Diesel schon verderben hat lassen, den lockt Mercedes aktuell mit einem GLE 450, der vom neuen Dreiliter-Reihenmotor aus der S-Klasse angetrieben wird. Von sich aus schon 367 PS und 500 Nm stark, steht ihm noch 48-Volt-Generator mit 22 PS und 250 Nm zur Seite. Das reicht zwar nicht zum elektrischen Fahren, hilft dem 2,2-Tonner aber beim Kickdown in 5,7 Sekunden auf Tempo 100 und verlängert die Start-Stopp- und Segelphasen so signifikant, dass der Verbrauch auf dem Prüfstand bei 8,3 Litern liegt.

Bei diesen drei Motoren wird es aber nicht bleiben. Sondern Mercedes hat bereits einen Plug-In-Hybriden angekündigt, der aus dem Akku deutlich weiter als 50 Kilometer fahren wird. Und weil nicht jeder sparen will, soll es auch wieder V8-Modelle geben. Und zwar mit oder ohne AMG-Logo.
Zwar kann der GLE alles ein bisschen besser als früher, sieht schnittiger aus, bietet mehr Komfort, Patz und Prestige und wird so gar vollends zum Luxusliner fürs Grobe. Doch den Gipfel hat der Wackelkandidat damit noch nicht erreicht. Wie er sich im Rennen mit X5 & Co schlägt, wird sich erst im neuen Jahr zeigen, und intern ist er ohnehin nur zweiter Sieger – schließlich steht mit noch mehr Platz und noch mehr Prestige schon der nächste GLS in den Startlöchern.




Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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