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Mercedes Vision Simplex: Ein Oldtimer aus der Zukunft

Von wegen Ladenburg, Bad Canstatt oder Stuttgart – wer auf die Suche nach den Wurzeln von Mercedes geht, der wird streng genommen erst in Nizza fündig. Denn dort residiert um die Jahrhundertwende ein gewisser Emil Jellinek. Der Geschäftsmann aus Österreich-Ungarn ist nicht nur leidenschaftlicher Autofahrer und erfolgreicher Fahrzeughändler, sondern auch Vater einer angeblich bildhübschen Tochter. Und als er bei der Daimler-Motorengesellschaft im Jahr 1900 mit vielen eigenen Konstruktionsvorschlägen ein neues Fahrzeug bestellt, soll es den Namen seiner Tochter tragen: „Mercedes.“

Von Thomas Geiger

So, wie sich der Name festsetzt und für die Ewigkeit etabliert, so tut es auch die Konstruktion. Denn der unter dem Kürzel Mercedes 35 PS entwickelte Wagen, mit dem Jellineks Mannschaft bei der Jungfernfahrt während der Rennwoche von Nizza hinauf zum Bergdorf La Turbie die Konkurrenz in Grund und Boden fährt, markiert die Abkehr von der Kutsche mit Motor und gilt als erstes modernes Auto: Frontal verbauter Motor, Kotflügel, vier gleich große Räder, mittig angeordnet der Platz für die Passagiere und eine Silhouette geprägt vom hohen Aufbau und der flachen Haube – so wird mit dem Mercedes 35 PS das noch heute gültige Drei-Box-Design geboren.  Und ganz nebenbei ist der Mercedes 35 PS so einfach zu bedienen, dass ihm der deutsche Kaiser kurz danach den Namen „Simplex“ gibt.

All das müsste eigentlich nur die Historiker interessieren – wenn Mercedes jetzt nicht zurück zu den Wurzeln gefunden hätte. Denn nachdem das vor allem aufs Interieur spezialisierte Designstudio in Como ohnehin aus allen Nähten geplatzt ist, haben die Schwaben jetzt stattdessen vor den Toren von Nizza ein neues Kreativcenter eröffnet, wo sie ganz nah am Kern der Marke an derer Zukunft feilen. Das ist in diesen Tagen wichtiger denn je. Denn selten hatten die Designer so viel zu tun wie heute. Nicht nur, dass ihre Disziplinen immer umfassender werden und sie sich zunehmend auch um das so genannte User Interface, also die digitale Erlebniswelt der Autos kümmern müssen. Sondern mit der temporären Koexistenz von konventionellen und elektrischen Fahrzeugen wächst auch die Modellpalette und die neue Antriebstechnik braucht auch eine neue Formensprache. Und als wäre das nicht schon genug, steigt zudem die Bedeutung des Designs: In Zeiten, in denen Technik immer vergleichbarer wird und Fahrdynamik immer weniger eine Rolle spielt, geht es mehr und mehr um Marke und Ästhetik. Designchef Gorden Wagener will Mercedes deshalb – auch hier in Nizza – vom Premiumhersteller zur führenden und meist geliebten sowie begehrtesten Designmarke der Welt machen oder in anderen Worten: „The most loved luxury brand“.

Und um diese Liaison aus Geschichte, Gegenwart und Zukunft am neuen Standort gebührend zu feiern und zugleich seine Leidenschaft für Luxus zum Ausdruck zu bringen, hat Designchef Gorden Wagener den Simplex kurzerhand von gestern nach morgen katapultiert. Geblieben sind dabei die freistehenden Räder und die beiden offenen Sitze kurz vor der Hinterachse. Doch wie man es von Wageners EQ-Modellen kennt, trägt der Simplex nun einen digitalen, schwarzen Kühlergrill, auf dem der Mercedes-Schriftzug nur noch eingeblendet wird. Der Rahmen darum ist nunmehr in Messing statt in Roségold gehalten und die offene Bank für Fahrer und Sozius gleicht mit aufwändig gesteppten Polstern und verspielten Instrumenten einer Schmuck-Schatulle. Und wo bislang ein Vierzylinder aus üppigem Hubraum mickrige 35 PS schöpfte, surren jetzt vier elektrische Radnaben-Motoren, die zumindest in der Theorie deutlich mehr Tempo erlauben als die rund 90 km/h, die in der Mercedes-Chronik für den „ersten Supersportwagen“ der Automobilgeschichte geführt werden. .

Doch so liebevoll Wagener und seine Mannschaft den Simplex 2.0 jedoch gestaltet haben, hat er einen entscheidenden Nachteil: Er kann nicht fahren, sondern ist nur eine Skulptur. Für ein voll funktionsfähiges Modell waren die Kosten zu hoch und die Kapazitäten zu knapp. Denn angesichts der bevorstehenden Umwälzungen in der gesamten Branche und im Mercedes-Portfolio haben Designer und Entwickler mit der kommenden Modellpalette mehr als genug zu tun.

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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