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Mercedes X-Klasse: Breites Kreuz und gute Manieren

Breites Kreuz und gute Manieren

Die Mercedes X-Klasse kommt

Gegen ihn ist der Mercedes GLA ein Spielzeugauto und selbst GLE oder GLS wirken irgendwie beengt, beschränkt und bescheiden. Denn wenn Mercedes im November zu Preisen ab 37.294 Euro die X-Klasse an den Start bringt, gibt es bei den Schwaben zum ersten Mal auf der Buckelpiste Platz in Hülle und Fülle. Und das gilt nicht nur für die Passagiere, sondern mehr noch fürs Gepäck. Schließlich ist der große Unbekannte für Terra X kein gewöhnlicher Geländewagen, sondern der erste Pick-Up im Zeichen des Sterns.

Von Thomas Geiger

Zwar spricht Volker Mornhinweg, der als Leiter der Van-Sparte auch diesen Neuzugang verantwortet, bei dem 5,34-Meter-Monster gerne vom Lifestyle-Laster und positioniert die X-Klasse als erstes Premium-Modell unter den Pritschenwagen. Doch zielt der Bulle von Benz weniger auf die feinen Herren im Boss-Anzug, die irgendwann ernüchtert aus dem SUV-Rausch aufwachen und nach härteren Drogen rufen, sondern vor allem auf Handel, Handwerk und Gewerbe und alle jene, die sich in der Freizeit gerne mit etwas größeren Gerätschaften beschäftigen.
Dafür versuchen sich die Schwaben an einem schwierigen Spagat: Denn auf der einen Seite braucht so ein Auto ein breites Kreuz, muss Europaletten tragen und mit Gabelstaplern spielen können. Nicht umsonst liegt die Nutzlast bei 1,1 Tonnen, nicht ohne Grund hat die Pritsche hinter der Doppelkabine eine Fläche von 1,5 x 1,5 Meter Metern und wohlweislich kann die X-Klasse stolze 3,5 Tonnen an den Haken nehmen. Aber auf der anderen Seite erwartet man bei einem Mercedes gewisse Manieren: Ein Bisschen mehr Lack und Leder, Finesse und vor allem Fahrkultur als in dieser Klasse ülbich müssen es deshalb schon sein.
Und als wäre die Spreizung nicht schon schwer genug, müssen sie dabei auch noch auf einer fremden Basis aufsetzen. Denn weil die Mittel knapp und die Margen klein sind, hat Mercedes die X-Klasse nicht selbst entwickelt oder von den eigenen SUV abgeleitet, sondern auf dem Navara des Kooperationspartners Nissan aufgesetzt. Von außen sieht man davon relativ wenig, weil die Designer einen guten Job gemacht und die X-Klasse wirkungsvoll neu eingekleidet haben. Und auch innen fühlt man sich mit dem Cockpit aus der A- und dem Lenkrad aus der C-Klasse, dem Touchcontroller für das Command-System aus der E-Klasse und dem freistehenden Navibildschirm aus dem GLE erst einmal Willkommen in der Mercedes-Welt. Doch auf den zweiten Blick erkennt man relativ viele Übernahmeteile von Nissan, und ganz so vornehm wie die Pkw-Baureihen fühlt sich das Lederimitat selbst in der nobelsten der drei Modellvarianten eben doch nicht an. Nicht einmal den Schlüssel haben die Schwaben ausgetauscht und stattdessen nur einen Stern auf den Nissan-Knubbel gepappt.
Ja, für einen Pick-Up sieht das alles vornehm und nobel aus. Doch an die Noblesse einer V-Klasse kommt der Pritschenwagen nicht heran und verglichen mit GLE & Co ist die X-Klasse eben doch ein nüchternes Nutzfahrzeug. Das gilt nicht nur fürs Ambiente und die Ausstattung, die mit Life-Traffic für die Navigation, Verkehrszeichen-Erkennung, Brems- oder Spurhalteassistent und LED-Scheinwerfern die Zwickmühle der unterschiedlichen Ansprüche noch einmal unterstreicht, weil sie bei den Nutzfahrzeugen neue Maßstäbe setzt und bei den PKW-Kunden trotzdem einige Wünsche wie eine automatische Abstandregelung oder klimatisierte Sitze unerfüllt lässt. Diese Zwitterrolle spiegelt sich auch im Preis wieder: Verglichen mit einem halbwegs ähnlichen VW Amarok ist die X-Klasse immerhin 7.000 Euro teurer, doch gegenüber einem vergleichsweise kleinen GLC spart man in etwa den gleichen Betrag.
Auch beim Blick unter die Haube macht sich erst einmal eine gewisse Ernüchterung breit. Denn in dem riesigen Bug steckt ein vergleichsweise winziger Motor, der ebenfalls von Nissan kommt. Zwar planen die Schwaben für das nächste Jahr als erstes und einziges eigenes Triebwerk mit einem V6-Diesel, der aus 3.0 Litern Hubraum 258 PS und 550 Nm schöpft und serienmäßig mit Siebengang-Automatik und permanenten Allradantrieb kommt. Doch los geht es erst einmal mit einem japanischen 2,3-Liter, der im X220d auf 163 und im X250d auf 190 PS kommt.
In der Theorie treibt das erst einmal die Mundwinkel nach unten. Doch in der Praxis reicht ein Druck auf den Startknopf, um sie wiederaufzurichten. Natürlich kann auch Mercedes nicht zaubern, 450 Nm Drehmoment müssen bei schon knapp 2,3 Tonnen Leergewicht ordentlich arbeiten und wenn man mit der Automatikversion 11,8 Sekunden von 0 auf 100 braucht oder bei 175 km/h gegen eine Wand aus Wind fährt, wird man ganz sicher keinen Geschwindigkeitsrausch bekommen. Doch zumindest in Sachen Fahrkultur trägt die X-Klasse den Stern zurecht: Wo der Navara genau wie der Renault Alaskan als dritter Zwilling in der Familie eher den herben Charme eines Schwerarbeiters entwickeln und mit ihrer Anstrengung nicht hinter dem Berg halten, herrscht in der X-Klasse eine vornehme Ruhe. Der Vierzylinder zwingt sich nicht nur zu einem höflichen Flüsterton, er rüttelt und schüttelt auch deutlich weniger als in den anderen Modellen. Und obwohl Mercedes im Grunde die gleiche Kombination aus Starrachsen hinten, Einzelradaufhängung vorn und Schraubfedern an beiden Achsen nutzt, federt die X-Klasse spürbar komfortabler als die Konkurrenten: Selbst auf der rabiatesten Rüttelstrecke hört man kein Knistern und kein Klappern und wenn man mit 120 Sachen durch ein Autobahnkreuz kurvt, bleiben die Hände trocken. Das möchte man ihm in einem Nissan oder einem Toyota HiLux lieber nicht nachmachen.
Dass der sanfte Riese trotzdem ein harter Kerl ist, merkt man spätestens im Gelände: Mit ordentlicher Untersetzung, reichlich Bodenfreiheit und keiner Scheu vor jedem Schmutz wühlt sich die X-Klasse so tapfer durch den Schlamm, dass sie es fast mit dem legendären Vierkant aus Graz aufnehmen kann: „Wo die G-Klasse hinkommt, ist eine X-Klasse nicht weit“, rühmen die Entwickler.
Gleichermaßen tough und teuer, beledert und belastbar und zumindest bei der Ausstattung ganz vorn – so macht sich Mercedes berechtigte Hoffnungen, die Latte in dieser Liga mit der ersten Premium-Pritsche ein wenig höher zu legen. Und die Chancen stehen gut, dass die Schwaben nicht nur in Sydney, Buenos Aires oder Kapstadt, sondern auch Stuttgart, Berlin oder Köln eine Menge Kunden finden, die den großen Unbekannten werktags als Workhorse und wochenends als Lifestyle-Laster nutzen. Doch um die ultimative Bewährungsprobe drückt sich Mercedes genauso wie VW vor sieben Jahren mit dem Amarok: Auf dem US-Markt, gemeinhin das Mutterland der Pickups und für die Schwaben obendrein rosiger Umsatzbringer, tritt die X-Klasse sehr zum Leidwesen der lokalen Händlerschaft erst einmal nicht an.

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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