Charles Rolls hat es offenbar schon immer gewusst: „Ein Elektroauto ist absolut geräuschlos und sauber. Es gibt keine Gerüche oder Vibrationen“, hat er später seinem Compagnon Henry Royce vorgeschwärmt und den E-Motor als optimalen Antrieb für das komfortabelste Automobil der Welt ausgelobt. Doch dummerweise hat der Mitbegründer von Rolls-Royce auch erkannt, dass es dazu mehr braucht als den Antrieb selbst: „Es sollte funktionieren, sofern es feste Ladestationen gibt“, hat Rolls konstatiert und kommt zu einem ernüchternden Fazit: „Im Moment gehe ich nicht davon aus, dass es praktikabel ist – zumindest nicht für eine lange Zeit.“
Doch mittlerweile ist diese „lange Zeit“ ins Land gegangen, denn Rolls’ Analysen stammen aus dem Jahr 1900 – und der jüngste seiner Nachfolger nimmt ihn nun endlich beim Wort: „Wir stellen heute die Weichen für die Zukunft“, sagt Torsten Müller-Ötvös und zieht dafür das Tuch vom ersten Rolls-Royce mit Akku-Antrieb, der als Spectre vom Ende nächsten Jahres an die Elite elektrisieren soll. Technisch eng verwandt mit dem Phantom auf der einen und dem BMW i7 auf der anderen Seite und als Nachfolger des bisherigen Phantom Coupé positioniert, dürfte er dabei kaum für unter 350.000 Euro zu haben sein. Und er soll nicht alleine bleiben. Sondern bis 2030 will Rolls-Royce ausschließlich elektrische Luxusliner anbieten, hat Müller-Ötvös bei der Premiere noch einmal unterstrichen.
Wo die Briten bislang dem V12-Motor als der kultiviertesten aller Kraftquellen gehuldigt haben, wirkt der 6,75 Liter große Souverän jetzt plötzlich laut und ungehobelt verglichen mit der Stille des Stromers, die Rolls-Royce auch zum Namen für den elektrischen Erstling inspiriert hat. Denn „Spectre“, das ist ein Gespenst, das lautlos über die Grenzen von Diesseits und Jenseits schwebt. Und unter den Gespenstern ist es eines von großer Macht, das die Welt bewegt und gleichermaßen zwingt zum Innenhalten, philosophieren die PR-Strategen und umschreiben damit mehr als blumig die explosive Kraftentfaltung der E-Maschinen. An beiden Achsen montiert, werden sie knapp 600 PS leisten und mit bis zu 900 Nm zu Werke gehen, so dass der Spectre trotz seiner knapp drei Tonnen Leergewicht in 4,5 Sekunden auf Tempo 100 eilt und nur von der Vernunft irgendwo bei 200 km/h wieder eingebremst werden dürfte. Die Energie dafür liefert eine Batterie mit vermutlich knapp 120 kWh, von der sich die Entwickler eine Reichweite von 520 Kilometern versprechen.
Während Leichtbau bei all dem Luxus für die Briten keine Option wahr, haben sie den Spectre im künstlichen Sturm optimiert und das Design im Windkanal glattgeschliffen: Allein die Kühlerfigur musste dafür 830 Stunden Strömungstests über sich ergehen lassen und wurde dabei so geglättet, das ihr wehender Umhang nun noch weniger Falten hat – im ebenmäßigen Gesicht war da ja ohnehin kaum mehr etwas zu holen. Zusammen mit einem nicht minder aufwändig optimierten Kühlergrill und einem fließenden Heck kommt der rund 5,50 Meter lange Zweitürer so auf einen cW-Wert von 0,25 und wird zum bislang windschnittigsten Rolls-Royce in der Firmengeschichte.
Aber Rolls-Royce hat nicht nur den Antrieb fit gemacht für eine neue Zeit, sondern auch das Ambiente aufs nächste Level gehoben: Es bleibt zwar bei Lack und Leder in mehr Farben und Formen, als es die Phantasie der meisten Autokäufer hergibt, bei knöcheltiefen Teppichen und jeder erdenklichen Extrawurst. Und weil Raum der wahre Luxus ist, misst der Radstand stolze 3,21 Meter. Doch soll der erlauchten Kundschaft künftig mehr denn je ein Licht aufgehen. Oder besser viele tausend Lichter. Denn zum ersten Mal für einen Rolls-Royce aus Serienproduktion gibt es neben dem Sternenhimmel nun auch so genannte Starlight Doors. Wie immer entgegen der Fahrtrichtung angeschlagen und auch weiterhin mit einem Regenschirm gefüllt, schimmern in ihnen 5.876 sanft beleuchtete LED-Sterne. Und als wäre das noch nicht genug, zieren das Armaturenbrett neben den digitalen Instrumenten im neuen Design auch noch beleuchteten Oberflächen, in denen vor dem Sozius das Spectre Typenschild und 5.500 weitere Sterne strahlen.
Während sich die Elite allem Wohlstand zum Trotz mit den ersten Schritten auf der Electric Avenue noch gedulden muss, haben die Ingenieure ihre elektrische Jungfernfahrt längst hinter sich – und dabei mehr Kilometer abgespult als je zuvor. Denn um sicherzustellen, dass der Transformator im Smoking alle Ansprüche an einen Rolls-Royce aus der alten wie der neuen Autowelt erfüllt, haben die Briten das umfassendste Testprogramm entwickelt, das bei der Marke je absolviert wurde. Deshalb werden die Prototypen bis zum Serienstart im Herbst 2023 über 2,5 Millionen Kilometer abgespult haben – hochgerechnet auf die üblichen Laufleistungen der Limousinen aus Goodwood, simuliert das einen Betrieb über mehr als 400 Jahre. Bis mindestens 2423 sollte die erlauchte Kundschaft vor gespenstischen Erlebnissen mit dem Spectre also gefeit sein.