Auf den Spuren der Bonner Republik: Mit einer alten Staatslimousine unterwegs zwischen Petersberg und Villa Hammerschmidt
Text: Thomas Geiger
Auf der Straße hat man ihn selten gesehen, doch in der Tagesschau war er ein Dauergast: Der Pullman gehört zur politischen Zeitgeschichte wie die Airforce One des US-Präsidenten oder das Papamobil. Denn als berühmteste Staatslimousine der Welt ist dieser Mercedes fast täglich irgendwo durch die TV-Nachrichten gefahren. Das ist jetzt zwar ein paar Jahre her. Doch spätestens wenn Mercedes im März 2015 in Genf das Tuch von einem neuen Pullman auf Basis der aktuellen S-Klasse zieht und mit dem 6,50 Meter langen Luxusliner für eine halbe Million Euro die Mächtigen dieser Welt aus ihren Rolls-Royce Limousinen locken will, dann sind auch die alten Bilder aus der Bonner Republik wieder da. Grund genug also, sich schon mal auf Spurensuche nach dem alten Pullman zu begeben: Die Staatslimousine war eine besonders luxuriöse und vor allem verlängerte Ausgabe des 600ers, den Mercedes auf der Frankfurter Automobilausstellung im Herbst 1963 mit nur einem Ziel präsentiert hat: Als vornehmste, teuerste und komfortabelste Limousine ihrer Zeit. Schon das Standardmodell maß respektable 5,45 Meter und kostete bei der Premiere schier unglaubliche 56 000 Mark. Für den Pullman hatten die Schwaben den Radstand um 70 Zentimeter auf 3,90 Meter gestreckt, die Länge wuchs auf 6,24 Meter, und der Preis kletterte auf 63 500 Mark, für die brave Bausparer damals schon ein hübsches Einfamilienhäuschen kaufen konnten. Und das Landaulet schließlich war nicht nur wegen seines ungeahnten Komforts so etwas wie ein Schloss auf Rädern.
Maximaler Komfort dank V8
Unter der Haube steckte bei allen drei Karosserievarianten ein gewaltiger V8-Motor mit 6,3 Litern Hubraum, der es auf stolze 250 PS und 510 Nm brachte. Heute gibt es so viel Kraft zwar schon in der C-Klasse. Doch damals hätte man mit solchen Werten selbst einem Porsche-Fahrer imponieren können. Natürlich sollte der von Chefkonstrukteur Fritz Nallinger binnen sieben Jahren entwickelte 600er auch schnell sein. Aber statt eines sportlichen Fahrverhaltens war im „Groß-Reise- und Repräsentationswagen“ vor allem eines gefragt: maximaler Komfort. Dafür haben die Schwaben eines der ersten Automatikgetriebe mit vier Gängen eingebaut, eine Luftfederung, zwei Klimaanlagen, und sogar eine automatische Parkbremse war schon an Bord. Und wirklich schlecht waren die Fahrleistungen auch nicht. Im Gegenteil: Obwohl 2,6 Tonnen schwer, schaffte es der 600er in zehn Sekunden auf Tempo 100 und erreichte 207 km/h, und der Pullman war kaum langsamer. Exklusiv und individuell war jedes der bis 1981 exakt 2 677 mal gebauten Autos 600er, von denen 428 als Pullman und 59 als Landaulet ausgeliefert wurden. Doch kein Auto war so exklusiv wie die beiden schwarz befrackten Lindwürmer, die noch bis nach der Wende und dem Umzug nach Berlin im Staatsdienst waren. Denn eigens für die Regierungsbesuche hat Mercedes zwei Luxusliner aufwändig gepanzert, und weil Frankreichs Präsident de Gaulle so hoch gewachsen war, wurde zudem das Dach angehoben. Allerdings stieg das Gewicht so auf 4,5 Tonnen, und mit Rücksicht auf Reifen und Bremsen wurde das Tempo auf 100 km/h limitiert. Die Auffahrt zum Gästehaus auf dem Petersberg wurde so zur schweren Prüfung.
Zwar hat es auch in den Baureihen der nachfolgenden S-Klassen immer mal wieder eine Langversion gegeben. Doch so repräsentativ wie der Pullman aus der Bonner Republik sind seine Erben nie gewesen.
Dabei fällt der Blick auf die gleich drei Telefone neben dem Fahrer, auf die Wechselsprechanlage über der Trennscheibe und auf die beiden organgen Leuchten am Dachhimmel, die Mercedes den Fotografen zuliebe eingebaut hat, „damit die Staatsgäste auf den Fotos nicht immer so blass aussahen“, erläutert Wolfgang Wöstendieck.
Staatstragender Chauffeur
Kaum einer kennt den Pullman besser als Wolfgang Wöstendieck. Schließlich war er über 20 Jahre lang einer der wichtigsten Fahrer der Republik: Als Werkschauffeur von Mercedes hat er im Auftrag der Bundesregierung zwischen 1971 und 1993 mehr als 100 Staatsbesuche begleitet und im politischen Dreieck zwischen dem Flughafen Köln-Bonn, dem Kanzleramt und dem Präsidentensitz in der Villa Hammerschmidt so ziemlich alle gefahren, die damals Rang und Namen hatten. „Der Pullman war nicht mehr und nicht weniger als das beste Auto seiner Zeit“, sagt Peter Schellhammer und strahlt noch heute voller Stolz: „Sicherer, moderner und komfortabler war damals keine andere Limousine“. Für Kanzler und Könige war das ein Segen. Aber Schellhammer hat das viel Arbeit eingebracht. Er war „Flying Doctor“ bei den Schwaben, musste überall auf der Welt die Mechaniker schulen und hat besonders wichtige Kunden persönlich eingewiesen. Natürlich waren es oft Sonderwünsche, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. Doch auch mit der normalen Technik hatte er bisweilen seine liebe Mühe. Vor allem die neuartige Komforthydraulik machte ihm zu schaffen. Weil Elektromotoren damals noch so groß waren wie Kokosnüsse, wurden viele Antriebe im 600er durch Hochdruckleitungen ersetzt. Nicht nur Stoßdämpfer und Bremsen, sondern auch Fenster und Sitzverstellung, die Trennscheibe und die neue Zuziehautomatik für die Türen wurden auf diese Weise bedient. Statt irgendwo einen Motor surren zu hören, macht es im Pullman deshalb einfach nur leise zisch, und schon gleiten die Fenster auf.
Pullman-Experte immer noch im Dienst
Vor allem diese Hydraulik ist es auch, wegen der er selbst im Ruhestand noch oft um die Welt jetten musste und in irgendeinem Sultanat, Königreich oder Scheichtum zum Schraubenschlüssel greift. „Denn Ersatzteile für den 600er sind rar und teuer“, sagt Schellhammer, „oft genug müssen sie deshalb von Hand nachgebaut werden“. Allein die Schalterbatterie in der Tür kostet dann schnell 5000 Euro, rechnet er vor und erklärt damit auch, warum das werkseigene Classic Center in Fellbach zum Teil mehr als 500 000 Euro für die Restaurierung eines Pullmans in Rechnung stellt. Doch wenn der Wagen so gut in Schuss ist wie der Luxusliner aus dem Museumsfuhrpark, dann ist jede Ausfahrt noch immer ein königliches Vergnügen. Auch heute noch gleitet der luftgefederte Pullman deshalb wie eine Sänfte über die Rheinbrücke bei Bad Godesberg und schwebt durchs Regierungsviertel, als hätte es nie einen Umzug nach Berlin gegeben. Und auch wenn diesmal die Polizeieskorte fehlt, sind dem standesgemäß beflaggten Staatswagen, dessen Chrom in der Sonne glänzt wie einstmals die Silbertolle von Präsident Weizsäcker, auf dem Weg zur Villa Hammerschmidt alle Blicke sicher.
„Der Pullman war nicht mehr und nicht weniger als das beste Auto seiner Zeit“, sagt Peter Schellhammer und strahlt noch heute voller Stolz: „Sicherer, moderner und komfortabler war damals keine andere Limousine“.
Repräsentieren statt intrigieren
Während bei aktuellen Stretch-Limousinen und VIP-Shuttels oft abgedunkelte Scheiben für einen Hauch von Privatsphäre sorgen, reist der Staatsgast im Pullman wie auf dem Präsentierteller: Die handgenähten Vorhänge bleiben heute offen, und nur schwer kann man der Versuchung widerstehen, sich ins offene Schiebedach zu stellen und huldvoll eine Parade abzunehmen. Weil der Wagen aber diesmal nicht im eigens eingebauten Kriechgang fährt und in den Kurven doch gefährlich wankt, lässt man sich stattdessen lieber in das weiche Sofa fallen, streicht mit der Hand über das beige Flockvelours der Lehnen, auf denen schon so viele gewichtige Arme geruht haben, und saugt ganz tief den Atem der Geschichte ein. Dabei fällt der Blick auf die gleich drei Telefone neben dem Fahrer, auf die Wechselsprechanlage über der Trennscheibe und auf die beiden orangen Leuchten am Dachhimmel, die Mercedes den Fotografen zuliebe eingebaut hat, „damit die Staatsgäste auf den Fotos nicht immer so blass aussahen“, erläutert Wöstendieck. Wer hier wohl schon alles gesessen hat, geht einem durch den Sinn. Wer schon alles die Minibar geöffnet hat, und vor allem was damals in der braunen Thermosflasche war, die auch heute noch im schönsten Nierentischambiente zusammen mit ein paar Schnapsgläsern auf durstige Passagiere wartet. „In der Regel gar nichts“, muss Wöstendieck seine neugierigen Zuhörer enttäuschen. Er dagegen hatte immer ein „Überlebenspaket“ an Bord. Denn wenn drinnen getafelt wurde, musste er meist draußen beim Wagen bleiben. „Und ich konnte ja schlecht mal schnell zum Kiosk fahren“, entschuldigt er die kleine Kühltasche mit einer Dose Cola, ein paar Chips, etwas Schokolade und einer handvoll Nüsse.
Unerreichter Mythos verharrt der Fortsetzung
Zwar hat es auch in den Baureihen der nachfolgenden S-Klassen immer mal wieder eine Langversion gegeben. Doch so repräsentativ wie der Pullman aus der Bonner Republik sind seine Erben nie gewesen. Und mit dem Maybach konnte man zwar gehörig imponieren. Doch war der Über-Mercedes derart prunkvoll und dekadent, dass er es nie in die Regierungsfuhrparks geschafft hat. Doch jetzt wollen es die Schwaben noch einmal wissen und ziehen die aktuelle S-Klasse doch wieder in die Länge. Für etwas weniger als eine halbe Million Euro aufwärts gibt es das Flaggschiff dann ab Anfang nächsten Jahres auf Wunsch auch gerne mit Panzerung – und einem gut einen Meter langen Zwischenstück, das die gerade erst präsentierte Maybach-Version der S-Klasse auf 6,50 Meter streckt und Raum für zwei entgegen der Fahrtrichtung montierte Sitze schafft. Zwar plant Mercedes dafür nur mit allenfalls dreistelligen Stückzahlen, doch wenn alles so kommt, wie sich die Schwaben wünschen, wird man auch diesen Pullman zumindest in den Nachrichten wieder etwas öfter sehen – der Bau der ersten Regierungsautos jedenfalls soll schon bald beginnen.