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Mercedes EQS: Das Versteckspiel ist vorbei

Mercedes startet durch auf der Electric Avenue. Nachdem die Schwaben bislang nur umgerüstete Verbrenner an die Ladesäule gestellt und dafür bisweilen laute Kritik geerntet haben, bringen sie nun ihr erstes Auto auf einer dezidierten Akku-Architektur und starten damit in jenem Segment, in dem sie sich besten zu Hause fühlen: Der Oberklasse. „Dieses Auto wurde entwickelt, um selbst die Erwartungen unserer anspruchsvollsten Kunden zu übertreffen. Genau das muss ein Mercedes leisten, um sich den Buchstaben ‚S‘ im Namen zu verdienen. Denn diesen Buchstaben vergeben wir nicht leichtfertig,“ sagt Vorstandschef Ola Källenius und lüftet nach jahrelangem Vorgeplänkel endlich und endgültig den Schleier über dem EQS. Als zukunftsgewandter Sidekick der S-Klasse soll er zu Preisen, die noch unter 100.000 Euro starten werden, nach den Sommerferien nicht nur Porsche Taycan und dessen Audi-Ableger e-tron GT parieren, sondern endlich Tesla vom Thron stoßen.

Den Aufbruch in die neue Zeit sieht man dem EQS auf den ersten Blick an. Denn diesmal gibt es nicht nur einen neuen Black-Panel-Grill und ein paar retuschierte Rückleuchten, sondern eine vollkommen eigenständige Karosserielinie, die so weit von der gewöhnlichen S-Klasse entfernt ist wie Sindelfingen von Shanghai oder San Francisco, wo die meisten EQS-Kunden der ersten Stunde residieren dürften: Statt des üblichen Stufenschnitts hat Designchef Gordon Wagener den EQS in einem einzigen Bogen gezeichnet und so nicht nur den Platz für die Passagiere maximiert, sondern vor allem den Luftwiderstand minimiert: Mit einem cw-Wert von 0,2 wird der EQS deshalb zum windschnittigsten Auto der Welt. 

Angenehmer Nebeneffekt des unkonventionellen One-Bow-Designs: Während die Hinterbänkler im 5,21 Meter langen EQS von den stolzen 3,21 Meterm Radstand und den kurzen Überhängen profitieren und bei der Länge der „kurzen“ S-Klasse mehr Beinfreiheit genießen als in der langen Version, freuen sich auch die Lademeister: Mit einer Kofferraumklappe bis ins Dach und einer umklappbaren Rückbank bietet der EQS zwischen 610 und 1.770 Liter Stauraum und wird so zum ersten Mitglied der S-Klasse-Familie, mit dem man sich auch an der Warenausgabe von Ikea blicken lassen kann. Dafür opfern die Schwaben dann auch bereitwillig den Frunk im Bug und nutzen den Platz lieber für einen raumgreifenden Hepa-Filter, mit dem sie den EQS-Fahrern die sauberste Luft versprechen, die es bis dato in einem Auto gegeben hat. Selbst Corona-Viren bleiben so angeblich draußen. 

Unter der unkonventionellen Hülle steckt die Electric Vehicle Architecture (EVA), auf der es bald auch eine elektrische Alternative zur E-Klasse sowie zwei große SUV mit Akku-Antrieb geben soll. Sie ist flexibel in Radstand und Batteriegröße, kann mit einem Motor für reinen Heckantrieb oder zwei Motoren und Allrad-Traktion bestückt werden und arbeitet mit Ladeströmen von zunächst 400 Volt. 

Los geht es mit einem EQS 450+, der mit einem Motor auf 245 kW und 568 Nm kommt und den Sprint von 0 auf 100 km/h in 6,2 Sekunden absolviert. Darüber rangiert der EQS 580 4matic mit einem zweiten Motor im Bug. So klettert die Leistung auf 385 kW, das Drehmoment gipfelt bei 855 Nm und der Sprint ist in AMG-tauglichen 4,3 Sekunden erledigt. Der Akku hat in beiden Fällen eine Netto-Kapazität von 107,8 kWh, mit denen eine WLTP-Reichweite von bis zu 770 Kilometern möglich wird. Mit bis zu 200 kW geladen, zapft der EQS 580 so unter idealen Bedingungen in 15 Minuten den Strom für 280 und der 450+ sogar für 300 Kilometer. Nur beim Tempo bescheiden sich die Schwaben und belassen es bis zum Debüt einer AMG-Version bei 210 km/h – zu wenig, für die „alte“ Welt und jene Vielfahrer, die mit 250 Sachen über die linke Spur fliegen; mehr als genug für die „neue“ Welt, in der auch potente Stromer aus Rücksicht auf die Reichweite meist allenfalls mit Richtgeschwindigkeit über die rechte Spur rollen. 

Aber Mercedes will nicht allein mit der Hardware und den Eckdaten aus dem Fahrzeugschein punkten. Die Erfahrung hat gelehrt, dass es mehr braucht als große Batterien und starke Motoren, um in der wachsenden Flotte der Elektroautos Aufmerksamkeit zu erregen – wie Tesla seinerzeit mit den Falcon-Doors des Model X oder Byton mit seiner Bildschirmlandschaft im M-Byte. Beide Ideen greift Mercedes auf und perfektioniert sie für den EQS: Die schwäbische Antwort auf die Flügeltüren ist der Sesam-öffne-dich-Effekt, bei dem auf Wunsch alle vier Türen wie von Geisterhand aufschwingen, sobald man sich dem Auto nähert. Und im Ringen um das größte Kino setzt das Designteam auf den „Hyperscreen“. So nennt Mercedes die durchgehende Fläche aus einem bei 650 Grad leicht gebogen Glas aus Aluminiumsilikat, die sich auf 1,41 Metern Breite beinahe von Tür zu spannt und ein ähnlichen großen Aha-Effekt hat wie fast vollkommen leere Cockpit eines Tesla: Es wirkt erfrischend neu und anders als alles, was bislang zu sehen war – und es polarisiert. Entweder man ist auf Anhieb hin und weg – oder man fühlt sich verloren in der virtuellen Realität. Damit das möglichst wenigen passiert, setzt Mercedes auf viel künstliche Intelligenz, die den Fahrer und seine Routinen mit jedem Kilometer besser kennenlernt und die Menüs so sortiert, dass immer die richtigen Befehle ganz oben stehen. 

Aber auch wenn alles neu ist, macht der EQS einen vertrauten Eindruck: Bereits nach wenigen Metern hinter dem Steuer ist man in der Zukunft angekommen und es stellt sich jenes erhabene Gefühl vom luxuriösen Reisen ein, wie man es seit Jahrzehnten von der S-Klasse kennt. Nur moderner, cleaner, cooler. Überraschend ist dabei weniger der spontane Antritt, der trotz 2,5 Tonnen und mehr einen Sprintwert unter fünf Sekunden ermöglicht und damit mühelos in AMG-Sphären vordringt. Sondern vor allem beeindruckt der EQS mit einem Maß an Fahrkultur, wie es bislang allenfalls die Maybach-Versionen der S-Klasse geboten haben. Wer erst einmal den künstlichen Raumschiff-Sound oder das imitierte V8-Grummeln deaktiviert hat, reist in absoluter Stille: Weil der Wind so wenig Widerstand findet und sämtliche Antriebskomponten noch einmal umschäumt wurden, wird man eher die Digitaluhr ticken hören, als dass ein Fahrgeräusch an die Ohren dringt. Und weil es natürlich serienmäßig eine Luftfederung gibt, wähnt man sich wie auf Wolken gebettet. So bekommt das Reisen eine neue Leichtigkeit. 

Leicht will es Mercedes dem Fahrer mit einem intelligenten Rekuperationsprogramm machen, das auf schlaue Art zum Verzicht auf das Bremspedal erzieht. Denn mit den Sensoren der automatischen Abstandregelung und den Daten zum vorausliegenden Streckabschnitt nutzt der EQS die E-Maschine genau in so einem Maß als Generator und damit als Bremse, dass die mechanische Bremse weitgehend überflüssig wird. Und während der EQS sich für die Insassen nach einem riesigen Auto anfühlt, macht er sich für den Fahrer klein: Wie in der S-Klasse ist hier die neue Hinterradlenkung verbaut und die Räder schlagen beim Rangieren um mehr als zehn Grad ein. So kreiselt das Fünf-Meter-Auto durch die Stadt, als wäre es ein Kleinwagen.

Fahrkomfort auf höchstem Niveau, dazu eine Interpretation von Luxus, die eher trendig ist als traditionell, die aktuell größte Batterie und mit ihr die beste Reichweite am Markt sowie obendrein ein Infotainment wie aus einer anderen Welt – so wird der EQS tatsächlich zum neuen Leitstern auf der Electric Avenue. Doch gleichzeitig verblasst damit ein anderer Fixstern, der den Schwaben jahrzehntelang den Weg an die Spitze gewiesen hat: Die S-Klasse. Selbst gerade erst erneuert und zurecht als bestes Auto der Welt gefeiert, wirkt sie je nach Sicht der Dinge plötzlich im besten Falle klassisch und im schlimmsten altmodisch und dürfte es zumindest in progressiven Märkten wie China oder den USA schwer haben, sich gegen den elektrischen Emporkömmling zu behaupten. Erst recht, wenn die Schwaben die gesamte S-Klasse-Klaviatur spielen und dem EQS auch wieder eine AMG- und eine Maybach-Variante zur Seite stellen.

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