Audi kommt spät, aber gewaltig. Denn wenn die Ingolstädter jetzt nach mehr als zwei Jahren des elektrisierenden Vorspiels im Dezember zu (deutschen) Preisen ab 79.900 Euro endlich den e-tron als ihr erstes Akku-Auto an den Start bringen, wollen sie nicht weniger als die Pole Position auf der Electric Avenue erringen.
Von Thomas Geiger
Dafür fahren sie einen Kurs mit minimalem Risiko. Der stolze 4,90 Meter lange e-tron ist nämlich nicht nur ein SUV, was bedeutet, dass er im aktuell aussichtsreichsten Segment des Marktes antritt. Anders als Model X und Jaguar I-Pace hat er obendrein auch ein eher konventionelles Design: Einzig der invertierte und weitgehend geschlossene Single-Frame-Grill, die imitierten Kühlrippen der Batterie entlang der Gürtellinie und das strömungsgünstige Heck unterscheiden ihn vom Q7 oder Q8.
Auch innen kommt einem der e-tron vertraut vor, weil er das Cockpit der aktuellen Oberklasse-Modelle mit den virtuellen Instrumenten, den zwei großen Touchscreens und den wenigen Schaltern übernimmt. Neu sind nur der Schalthebel wie im Space-Shuttle, die riesige Ablage im Mitteltunnel, die da ist, wo früher mal das Getriebe war, die Bewegungsfreiheit im geräumigen Fond, in dem kein Kardantunnel mehr den Fußraum teilt, sowie das 60 Liter große Staufach vorn unter der Motorhaube, mit dem der e-tron auf insgesamt 660 Liter Ladevolumen kommt.
Dass man das Auto trotzdem buchstäblich mit neuen Augen sieht, liegt vor allem an den Außenspiegeln, die zugunsten von Luftwiderstand und Reichweite zum ersten Mal in der Großserie durch Video-Kameras ersetzt werden. Deren Bild erscheint auf Displays in den Türen, auf denen man sogar Zoomen und den Blickwinkel ändern sowie die Warnhinweise der Assistenzsysteme erkennen kann – klingt futuristisch und verspielt, funktioniert aber ausgesprochen gut und es dauert nur ein paar Kilometer, dann hat man sich daran gewöhnt.
So vertraut einem der e-tron vorkommt mag: Sobald man den Wagen anlässt, erlebt man den ersten Audi einer neuen Ära. Denn man hört – nichts. Aber man fühlt umso mehr. Schließlich kommen die beiden E-Motoren zusammen auf 408 PS und 664 Nm, so dass sie selbst mit den 2,5 Tonnen leichtes Spiel haben. Von 0 auf 100 km/h beschleunigt der e-tron deshalb still und seidig in 5,7 Sekunden, erst jenseits von 130 Sachen wird es aufgrund der Übersetzung ein bisschen zäh und bei 200 Sachen zieht die Elektronik mit Rücksicht auf die Reichweite die Reißleine.
Aber auf der Geraden sind alle Elektroautos schnell. Wo Audi den Unterschied machen will, ist in der Kurve und im Gelände. Denn mehr als alle anderen Hersteller im Elektrosegment wollen die Bayern dem Kunden auch etwas Dynamisches bieten. Deshalb haben sie nicht nur flüssigkeitsgekühlte Motoren, damit man mehr als einmal durchbeschleunigen kann, sondern auch die serienmäßige Luftfederung so programmiert, dass sie den Wagen im Gelände um fünf Zentimeter aufbockt und bei flotter Fahrt zugunsten von Luftwiderstand, Reichweite und Schwerpunkt um knapp drei Zentimeter absenkt.
Auch sieben unterschiedliche Fahrprofile wurden konfiguriert, die von extrem komfortabel über sehr sparsam bis ungewöhnlich sportlich reichen. Dabei verschiebt sich nicht nur die Antriebsleistung zunehmend nach hinten. Selbst das ESP meldet sich immer weiter ab und schaltet in der schärfsten Stufe sogar ganz aus. So wird der e-tron zum ersten und bislang einzigen Elektroauto, mit dem man auf dem richtigen Untergrund sogar driften kann. Nicht, dass das wirklich nötig wäre. Aber Spaß machen tut es trotzdem. Quer geht nun mal mehr.
Während der e-tron beim Gas- … Verzeihung … beim Stromgeben neue Maßstäbe setzt, hinkt er beim Bremsen ein bisschen hinterher: Obwohl man mit den Wippen am Lenkrad zumindest zwischen drei Rekuperationsstufen wählen kann, kommt man um das Bremspedal nicht herum. Egal, wie früh man den rechten Fuß lupft, ist die Verzögerung viel zu schwach für das von Elektro-Enthusiasten so geschätzte One-Pedal-Fahren. Das heißt aber nicht, dass man deshalb gleich Energie verschwendet. Audi hat eine intelligente Bremssteuerung entwickelt, die auch beim Tritt aufs Pedal erst einmal die Schubumkehr mit dem Generator nutz, bevor die mechanische Verzögerung einsetzt. Zusammen mit einem ausgeklügelten Thermo-Management und einer bis ins Detail des Unterbodens optimierten Aerodynamik ist das ein Grund, weshalb die Ingolstädter „deutlich mehr als 400 Kilometer“ Reichweite im WLTP-Zyklus versprechen.
Intelligentes Energiemanagement hin, 95 kWh Batteriekapazität her – weil der Akku allen Kunstgriffen zum Trotz irgendwann einmal leer sein wird, hat Audi viel Energie in einen möglichst schnellen und reibungslosen Ladevorgang gesteckt. Das gilt im Großen, weil die Herren der Ringe auf die 150 kW-Technik setzen und man so zum Beispiel an den Ionity-Säulen binnen 30 Minuten auf 80 Prozent kommt. Audi hat es tatsächlich auch geschafft, 80 Prozent der 65.000 öffentlichen Ladepunkte in Europa vertraglich so unter einen Hut zu bringen, dass man dort mit einem Kundenkonto und einer Karte Strom zapfen kann. Und das gilt im Kleinen, weil sie auf jeder Seite eine Ladebuchse installieren und die auch noch hübsch inszenieren. Denn wo es sonst überall nur eine ziemlich banale Tankklappe gibt, surrt der Deckel beim e-tron zum ersten Mal elektrisch auf.
Noch ist der elektrische Erstling allerdings ein Sonderling. Und auch wenn sich angeblich bereits tausende Interessenten registrieren haben lassen, kann bei Audi niemand seriös abschätzen, wie viele E-Tron im nächsten Jahr verkauft werden. Doch davon lassen sich die Bayern in ihren elektrischen Elan nicht einbremsen. Deshalb feiern sie den E-Tron nicht nur als einen Höhepunkt in der Firmengeschichte, sondern auch als Beginn einer neuen Ära – und haben entsprechend große Pläne: Bis 2025 wollen sie deshalb gleich ein Dutzend weiterer Akku-Autos bringen. Spätestens dann dürfte es auf der Electric Avenue ziemlich voll werden.