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Das Schreien der Lämmer

Elektroautos sind brav wie Lämmchen und leise wie tote Lämmchen. So die landläufige Meinung. In Form des Audi e-tron GT mutiert das Lamm aber zur wilden Bestie. Und aus der Stille dringt plötzlich ein Aufschrei hervor.

Text: Jakob Stantejsky, Fotos: Eryk Kepski

Der könnte einerseits von einem erzürnten Veggie-Carsharer stammen, der sich darüber entrüstet, dass seine heilige Kuh, die Elektromobilität, hier für solch niedere Zwecke wie Spaß und Leidenschaft missbraucht wird. Oder er kommt vom Audi e-tron GT selbst, der nämlich über ein recht kräftiges Organ verfügt. e-tron-Sportsound nennt sich das Feature, das beim gewaltbereiten RS e-tron GT serienmäßig mit an Bord und beim Standardmodell auf Wunsch zu ordern ist. Für ­alle Techniker und jene, die sich einfach nur beim nächsten Stammtisch im November 2024 fachmännisch geben wollen, sei hier die Technologie hinter dem ominösen Begriff erklärt. Zwei Steuergeräte und Verstärker erzeugen, angepasst an die momentane Drehzahl der beiden Elek­tromotoren, die Geschwindigkeit und weitere Parameter, eine futuristische Klangkulisse, die sich irgendwo zwischen Star Wars und einem Wolfsrudel einordnet. Das akustische Erlebnis wird sowohl an den Innenraum als auch an die Außenwelt per Lautsprecher weitergegeben – so geht Klappenauspuff im Jahr 2021. Die Intensität des sorgfältig komponierten Sounds kann in drei Stufen geregelt werden: Entweder tönt der e-tron GT gar nicht lauter, als er es bei niedrigen Geschwindigkeiten gesetzmäßig muss, oder er bietet nur den Passanten ein Konzert, oder es werden im dynamischen Modus eben alle Beteiligten beglückt. Der geneigte Leser erkennt schon messerscharf, so richtig überzeugt ist der Schreiberling von dem Konzept nicht. Wer auf einen kraftvollen Sound besteht, kauft sich doch sowieso keinen Stromer, oder? Und wer Elektroautos liebt, ergötzt sich doch gerade an ihrer Ruhe, nicht wahr? Aber gut, das mag auch eine irrige Annahme sein. Wer will, muss den e-tron Sportsound ja gar nicht erst bestellen oder dreht ihn im RS halt einfach ab. Dessen irrwitzige Beschleunigung flößt einem eigentlich sogar mehr Ehrfurcht ein, je stiller es ist.

Denn der Kontrast zwischen dem dezenten Elektrogesäusel, das doch jeder E-Motor von sich gibt, und der brachial-brutalen Rasur, die der RS e-tron GT dem Asphalt zuteil werden lässt, ist in etwa so scharf wie ein Katana von Hattori Hanzo himself. 3,3 Sekunden auf 100 km/h ist definitiv Supersportlerniveau, aber mit ganz viel bösem Willen könnte man unken, dass es auch nicht konkurrenzlos ist. Mag schon sein, aber wo Benziner ihren Punch beim Paradesprint bei voller Fahrt entfalten, rammt einem der RS e-tron GT die stählerne Faust der E-Mobility direkt aus dem Stand in den Magen. Das Haupt pickt an der Kopfstütze wie festgetackert, und das Hirn bleibt ein paar Zehntel lang auf der Startlinie zurück, bevor es gummibandartig an seinen rechtmäßigen Platz zurückschnalzt. Gut so, denn sonst würde es vielleicht vor Angst die Operation abbrechen. So ist es Passagier und kann sich dem Rausch der Kräfte ganz hingeben. Der reißt übrigens auch noch lange nicht ab, diese Rakete mag zwar elek­trisch sein, doch sie hat keine Angst vor dem 200er und stürmt ihm ekstatisch entgegen. Haben wir gehört. Nicht dass wir das aus Erfahrung wüssten, schließlich darf man so etwas auf den Straßen dieses Landes gar nicht ausprobieren.

Möglich werden solche Fabelleistungen dank zweier Elektromotoren, von denen einer vorne und einer an der Hinterachse Platz nimmt. Allradantrieb versteht sich da natürlich von selbst und ist bei 598 PS, die kurzzeitig auf 646 PS anschwellen können, und 830 Nm Drehmoment im RS e-tron GT auch bitter nötig. Der „normale“ e-tron GT begnügt sich mit äußerst zivilen 476 Pferden (530 maximal) und 630 Nm Drehmoment und katapultiert sich und seine Insassen dann auch in „lediglich“ 4,1 Sekunden auf Landstraßentempo. Immer noch eine waghalsige ­Angelegenheit, aber nach einer Fahrt im RS beinahe schon sanftmütig. Davon abgesehen ­unterscheiden sich die beiden Versionen gar nicht allzu sehr. Vor allem, was das Optische angeht. Der RS kommt weder mit gigantischen Nüstern oder einem (noch) schärferen Diffusor daher. Das fesche und um acht Kilo leichtere Karbondach ist bei ihm Serie, beim e-tron GT muss man Aufpreis blechen. Dazu kommen noch einige weitere Karbonapplikationen wie etwa an den Außenspiegeln und den Flanken, doch sonst artet es nicht weiter aus. Muss es auch nicht, denn vor allem eines bewegt sich an diesem Auto schon voll an der Grenze: Das Heck des Audi e-tron GT, egal, ob RS oder nicht, ist so fett und wollüstig gezeichnet wie kein anderes Auto diesseits von Aventador und Konsorten. Bei unserer kleinen Testfahrt gibt es innerhalb von zwei Stunden mehr verrenkte Hälse als in einem ganzen Sommer am Ballermann. Ob Audi für die Behandlung der ­Ende Februar südlich von Wien massenweise auftretenden ­Nackenschmerzen aufkommen muss, muss wohl erst noch vor Gericht geklärt werden.

Doch auch der Fahrer darf glotzen. Denn vor allem im getesteten RS e-tron GT fahren die Ingolstädter alle Geschütze auf. Das Interieur strotzt vor Nappaleder, Karbon und Dinamica, das in seiner Beschaffenheit mit Alcantara vergleichbar ist. Selbst bei markerschütternden Beschleunigungsvorgängen loungiert man in den edlen roten Stühlen feinstens gebettet. Erstaunlicherweise hat Audi sich in puncto Bedienung gegen den aus A8 und Co. bekannten zweiten Touchscreen unter dem großen Infotainmentbildschirm entschieden und verarbeitet hier tatsächlich einige (durchaus wertige) Tasten – oh Schreck! Kleines Geheimnis: Gefällt uns sogar besser so, optisch wie haptisch.

Wer den Audi e-tron GT fährt, steht einem Paradoxon gegenüber. Denn das Fahrgefühl erinnert, auch dank der knapp zweieinhalb Tonnen Eigengewicht, auf gewisse Weise an einen Rolls-Royce. So edel ist der Bayer natürlich nicht, aber der Verbund aus Stille und Kraft drängt den Vergleich irgendwie auf. Außerdem ist auch der Audi bei aller Power nicht für die Piste geschaffen, GT steht nicht umsonst für Gran Turismo. Und doch strahlt der e-tron GT eine Wildheit aus, die ihn fast schon bedrohlich wirken lässt. Eine Art Wolf im Schafspelz der Elektromobilität also. Und wenn der auf die Weide rollt, dann schreien die Lämmer.

Audi e-tron GT/RS e-tron GT
Leistung: max. 530/646 PS
Reichweite: 488/472 km
Verbrauch: 18,8/19,3 kWh/100 km
Drehmoment: 630/830 Nm
Beschleunigung: 0–100: 4,1/3,3 s
Spitze: 245/250 km/h
Gewicht: 2.350/2.422 kg
Preis: ab 101.400/140.400 Euro

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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