Schlauere Sicherheitssysteme, Motoren mit mehr Leistung und weniger Durst, mehr Status im Design und mehr Komfort im Innenraum – all das mag die Entwickler der neuen S-Klasse kräftig umgetrieben haben. Doch glaubt man der aktuellen Kommunikationsstrategie der Schwaben, wird das Rennen um die beste Oberklasselimousine der Welt mittlerweile offenbar in einer anderen Disziplin gewonnen. Denn bevor sie in Stuttgart über Ingenieurskunst oder Hardware oder wenigstens über Design ihres kommenden Flaggschiffs sprechen, rücken sie jetzt das neue Infotainment-System in den Fokus. Zwei Jahre nach dem Start von MB UX in der A-Klasse bekommt der Luxusliner die nächste Generation dieser „User Experience“ und will die Reichen und Wichtigen dieser Welt mit einem Bedienerlebnis locken, wie es sonst kein anderes Auto zu bieten hat.
Von Thomas Geiger
Der erste Blick auf eine Demo-Einheit, die in einer so genannten Sitzkiste, also einem Modell des Innenraums ohne Antrieb und ohne Räder installiert ist, ist dabei zwar entsprechend imposant, aber noch keineswegs einzigartig. Denn digitale Instrumente sind nun wirklich keine Überraschung mehr, den aufrecht montierten Riesenbildschirm auf der Mittelkonsole kennt man von Telsa oder Volvo, die Bildschirme an den Rückseiten der vorderen Lehnen hat schon das aktuelle Modell, und das kleine Tablet als Fernbedienung für den Fond nutzen die Hinterbänkler bei Audi oder Bentley schon lange.
Doch spätestens, wenn man in die Sitzkiste klettert und jemand die Zündung einschaltet, wähnt man sich in einer neuen Welt und glaubt den Schwaben ihren Führungsanspruch – und zwar ganz egal, ob man vorne oder hinten sitzt. Denn während die Sprachsteuerung, die nun noch mehr Smalltalk und lexikalisches Wissen beherrscht und in vielen Fällen nicht einmal mehr mit „Hey Mercedes“ aktiviert werden muss, künftig gleichberechtigt aus beiden Reihen bedient werden kann, gibt’s für die Fahrgäste im Fond nun erstmals Touchscreens, und so ähnlich wie bei Apples Airdrop können einzelne Inhalte mit einem Fingerzeig geteilt werden.
Der Fahrer dagegen freut sich über das erste echte 3D-Display hinter dem Lenkrad und sieht die Welt so mit ganz neuen Augen. Denn egal ob Bordcomputer oder Navigationsdarstellung – plötzlich sind die Informationen damit wie die Kulissen auf einer Theaterbühne räumlich gestaffelt und viel besser zu erkennen. Und als wäre das noch nicht genug, gibt’s außerdem eine neue Generation Head-Up-Display. Damit schwebt die deutlich größere Grafik künftig weiter vor dem Auto, ist noch besser zu erkennen und bietet obendrein mehr Inhalte. Denn zum ersten Mal wird die Augmented-Reality dynamisch angezeigt und Pfeile wie Fischgräten fliegen durch das Bild, um dem Fahrer den Weg zu weisen.
Während sich der Fahrer hinter den neuen Displays und Projektionen fühlt wie im Kino und ihm bisweilen die Augen übergehen, haben die Finger deutlich weniger zu tun. Denn im neuen Cockpit gibt es knapp 30 Schalter weniger als bisher und dafür mehr Intelligenz. Denn jetzt erkennt die S-Klasse anhand von Blickrichtung und Gesten im vorauseilenden Gehorsam, was der Fahrer womöglich verstellen will und schlägt zum Beispiel gleich den richtigen Sitz oder Spiegel vor.
Dafür bekommen die Finger allerdings eine neue Aufgabe: Zwischen ein paar wenigen Tasten für die Direktwahl wichtiger Funktionen gibt’s unter dem großen Center-Screen einen Scanner für den Fingerabdruck. Zusammen mit einer Augenerkennung und einem Pin dient er der zweifelsfreien Identifikation des Fahrers, so dass der seine S-Klasse nicht nur mit favorisierten Einstellungen und Inhalten personalisieren, sondern mit MB UX zum ersten Mal auch bezahlen kann.
Und selbst fürs Aussteigen haben sich die Schwaben noch was einfallen lassen. Sobald die Gestenerkennung drinnen den Griff zum Türöffner registriert, schaut die Elektronik draußen nach Radfahrern, Fußgängern oder anderen Autos und lässt die Ambientebeleuchtung rot flackern, falls Gefahr droht.
Hier und heute flackert natürlich nichts, denn die Sitzkiste steht allein im Entwicklungszentrum und unkontrollierter Fremdverkehr ist hier in den Heiligen Hallen eher selten. Doch kaum aus der futuristischen Dummy geklettert und dem Designzentrum entlassen, begegnen einem draußen tatsächlich wieder echte Autos – darunter gleich mehrere Prototypen der neuen S-Klasse. Die sind zwar zwei Monate vor der Weltpremiere im September und ein halbes Jahr vor der Markteinführung noch streng getarnt und viel zu erkennen ist bei denen nicht. Und trotzdem bergen sie eine wichtige Botschaft: Ja, es geht nicht nur um Soft- sondern auch um Hardware. Und allem digitalen Errungenschaften zum Trotz geht es noch immer auch um Fortbewegung.