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Freightliner Cascadia mit Virtual Driver

Sechs Zylinder, 15 Liter Hubraum, über 600 PS und mehr als 2.000 Nm, vor den Augen eine endlos lange Motorhaube, unter dem Hintern einen luftgefederten Ledersessel zwei Meter über dem Boden und drum herum eine Kabine groß wie die Suite im Luxushotel – wer im Freightliner Cascadia über die Interstate 40 aus Albuquerque hinaus auf die Sandia Crest Mountains zu fährt, fühlt sich tatsächlich wie der King of the Road.

Doch heute kann der König der Landstraße vorübergehend abdanken. Denn wir sitzen nicht in irgendeinem jener Cascadia, die der Daimler-Tochter mit bis zu 100.000 Zulassungen pro Jahr die unangefochtene Marktführerschaft in den USA sichern. Sondern wir sind an Bord eines Prototypen, den Torc mit seinem Virtual Driver ausgestattet hat: Drei Jahre, nachdem Daimler sich die Mehrheit an dem Elektronik-Spezialisten gesichert hat, meistert der Truck die gut 420 Meilen nach Amarillo mittlerweile ganz ohne Zutun des Fahrers und Trucker Paul sitzt genau wie sein Kollege Antonio auf dem Sozius nur noch zur Sicherheit in der Kabine, starrt auf die Bildschirme und kontrolliert, dass der Autopilot seine Sache auch richtig macht. „Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als ich vor 30 Jahren zum ersten Mal auf den Bock gestiegen bin“, sagt der Truck-Routinier, schüttelt ungläubig den Kopf und stöhnt mit einer gewissen Ironie über die Langeweile, die ihm der Computer aufzwingt. „Je langweiliger meine Schicht ist, desto besser macht der seine Sache bereits.“ Und das ist erst der Anfang. Denn wenn es nach Torc-Chef Peter Schmidt geht, sollen die autonomen Cascadia bald gänzlich unbemannt zwischen speziellen Hubs auf den Interstates pendeln und nur für die erste und die letzte Meile auf der Landstraße oder in der Stadt steigen Paul und seine Kollegen dann wieder ins Cockpit. „Wobei diese erste und letzte Meile hier in den USA schon ganz schön lang sein können“, räumt Schmidt ein. 

Schon in zwei, drei Jahren will Schmidt erste Pilotkunden mit solchen Cascadias beliefern und rund um die I-40 als wichtigsten Transportkorridor im Südwesten der USA eine Handvoll Hubs installieren. Und wenn alles nach Plan läuft, könnten zum Ende der Dekade bereits zehntausende Robo-Trucks auf einem wachsenden Anteil der rund 42.000 Meilen langen Interstates unterwegs sein. „Bis zu sechs Prozent des amerikanischen Transportvolumens könnten dann autonom abgewickelt werden“, wagt Schmidt eine optimistische Prognose und nimmt Truckern wie Paul damit zugleich die Angst vor dem Job-Verlust. Denn erstens bleiben dann ja noch immer 94 Prozent für den analogen Transport, und zweitens gibt es auch in den USA einen grassierenden Fahrermangel, der durch einen erwarteten Anstieg des Transportvolumens von bis zu 30 Prozent in den bis 2030 noch dramatisch verschärft wird. „Der Virtual Driver ist deshalb beileibe kein Job-Killer“, sagt Torc-Strategiechef Andrew Culhane, den vielmehr Leib und Leben seiner Kunden und der anderen Verkehrsteilnehmer treibt. Schließlich gibt es allein in den USA pro Jahr 5.000 Tote durch Unfälle mit Lkw-Beteiligung und über 90 Prozent davon gehen auf Fehler des Fahrers zurück. 

Und ganz nebenbei geht es dabei natürlich auch um Profite: Die autonomen Trucks können länger und effizienter eingesetzt werden, weil ein Autopilot weder müde wird noch Pausen braucht, sie verbrauchen weniger und halten länger, weil sie gleichmäßiger gefahren werden, Virtual Driver kassieren keine Strafzettel und natürlich ist am Ende auch Sicherheit ein Kostenfaktor. Nichts verhagelt Spediteuren die Bilanz mehr als Ausfälle oder gar Unfälle, sagt Culhane. 

Das Torc-Team arbeitet am autonomen Fahren schon über 15 Jahre und Mercedes ist bereits 2015 führerlos über den Hoover-Damm bei Las Vegas gerollt. Doch für Paul am Steuer des silbernen Cascadia braucht es nur einen Knopfdruck, um in die Zukunft zu starten: Vom Parkplatz muss der den Fahrer dann noch selbst rangieren, zwei Ampelkreuzungen nehmen und durch das quirlige Industriegebiet steuern. Doch kaum dreht sich der dicke Bug in Richtung Auffahrt, flackert im Himmel der Kabine ein blauer Schimmer auf, die Anzeige auf den vielen Kontrollbildschirmen wechselt von Rot auf Blau und der Virtual Driver übernimmt das Kommando.

Wie von Geisterhand findet der Cascadia eine Lücke, wechselt gleich noch zwei Spuren weiter nach links und schwimmt Minuten später flüssig im lockeren Verkehr Richtung Amarillo. Dabei lässt er sich weder von den bekannt schlechten Fahrern in Albuquerque aus der Ruhe bringen, noch vom starken Seitenwind, der hier bisweilen durch die Ebene fegt. Er hält immer einen sicheren Abstand zum Vordermann, macht einen großen Bogen um Pannenfahrzeuge und wenn es zwischendurch mal steil bergab geht, wechselt er materialschonend auf die Motorbremse: „Der Virtual Driver fährt wie der beste Autofahrer, den man sich vorstellen kann“, sagt Culhane, „Umsichtig, ausgeschlafen, gelassen und nach der besten Tasse Kaffee seines Lebens.“

Möglich machen das ein Heer von Sensoren, die bislang noch relativ grobschlächtig ringsum in der Kabine und dem Rahmen des Riesen verschraubt sind. Lidar und Radar, Kameras und Infrarot-Sensoren helfen dem Virtual Driver bei der exakten Positionsbestimmung auf den speziell digitalisierten Abschnitten der Interstate und vermitteln ihm ein sehr präzises Bild seiner unmittelbaren Umgebung: Fahrbahnmarkierungen, Verkehrsschilder, Brücken oder Pfosten und natürlich alle anderen Verkehrsteilnehmer und deren Bewegungsrichtung – all das erfasst die Sensorik und füttert damit die Rechner, die in einem kühlschrankgroßen Turm hinter dem Fahrer surren und viele tausend Mal pro Minute den richtigen Kurs berechnen.

Mit dem Autopiloten alleine ist es für den Truck der Zukunft allerdings nicht getan. Weil in der Daimler-Vision des automatisierten Hub-to-Hub-Verkehrs gar kein Fahrer mehr an Bord ist, der etwa bei einer Panne eingreifen kann, legt Mercedes Systeme wie die Lenkung oder die Bremsen wie beim Flugzeug redundant aus und spickt den Truck zudem mit Sensoren, die Reifenpannen oder Motorschäden möglichst frühzeitig erkennen können. Außerdem hofft Schmidt, dass bis zur Serienreife des Virtual Drivers auch der e-Cascadia auf eine vernünftige elektrische Reichweite kommt, weil Batterien und E-Motoren noch weniger anfällig sind. 

Außerdem gehört zum Fahrzeug auch eine Art intelligenter Kommando-Zentrale: Diese Mission Control soll die Fahrzeug- und Warenströme managen und all jene Aufgaben übernehmen, die früher der Fahrer im ständigen Dialog mit seiner Leitstelle erledigt hat, erläutert Schmidt. 

Zwar haben sich die Schwaben, die ihr redundantes Cascadia-Chassis auch der Google-Tochter Waymo als Basis für deren Autopiloten verkaufen, erst einmal auf die amerikanischen Interstates konzentriert, weil da der Aufwand am geringsten und der Nutzen am größten ist. „Doch ist das hier keine amerikanische Exklusivlösung“, sagt Schmidt. Die redundante Truck-Technik lässt sich genau wie die Sensoren auf jeden Actros übertragen und auch die Software das Virtual Drivers ist nicht auf die USA beschränkt. Genau wie ein Autofahrer im Urlaub muss sich der Autopilot zwar an die örtlichen Gegebenheiten anpassen, die lokalen Verkehrsregeln lernen, braucht spezielle Karten und einen Datensatz mit den jeweiligen Schildern. Doch was im Cascadia zwischen Albuquerque und Amarillo klappt, das funktioniert dann auch zwischen Wien und Bregenz.

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