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Mercedes-AMG SL: Die Brücke zurück nach vorn

Kritiker mögen es eine schwere Geburt nennen, während es die Internen wohl als jene Weile umschreiben werden, die gut Ding nun eben haben will. Doch so langsam ist die Ursachensuche hinfällig. Denn nach Strategieschwenk, dem Wechsel der Entwicklungsverantwortung, der Pandemie-Pause und den Hemmnissen der Chipkrise ist es jetzt endlich vollbracht und Mercedes zieht das Tuch von einem neuen SL. Fast 70 Jahre nach der Jungfernfahrt des legendären Flügeltürers geht deshalb zur Cabrio-Saison 2022 ein neuer Stern am Roadster-Himmel auf. 

Dabei bringen die Schwaben den Lauf der Zeit gehörig durcheinander. Denn wer für Startpreise von geschätzten 170.000 Euro (D) aufwärts hinterm Lenkrad sitzt, der wähnt sich auf der einen Seite ganz im Hier und Heute, blickt in digitale Anzeigen, lässt vor der Mittelkonsole ein iPad-großes Display in den richtigen Winkel surren und flirtet mit Siris Schwester „Hey Mercedes“. Doch auf der anderen Seite beamt ihn der Benz zurück in bessere Zeiten, als der SL wirklich noch ein legendärer Sportwagen und kein luftiger Luxusliner für behäbige Besserverdiener war. 

Das gilt für das Design mit den markanten Powerdomes auf der langen Haube und den vom Original inspirierten Grill. Das gilt für die Karosserie, die zurück kehrt zu den beiden Notsitzen wie beim R129 aus den 1990ern und vor allem zum Stoffverdeck, das erst mit der Jahrtausendwende abgeschafft wurde. Jetzt faltet sich deshalb – bis Tempo 60 und in nur 15 Sekunden – wieder eine Stoffmütze ins Genick statt einer Kunststoffhaube, die zwei Generationen lang krude Kehrseiten erzwungen hat. Und das gilt vor allem für die Technik, mit der AMG den SL vom Gleiter wieder zum Fighter machen will. Ja, es gibt für den Komfort auch einen elektronischen Wankausgleich mit 48 Volt-Technik, und für garantierte Traktion in allen Lebenslagen baut AMG erstmals im SL sogar Allradantrieb ein. Doch es gibt eben auch eine messerscharfe Lenkung für alle vier Räder, mit denen der immerhin 4,70 Meter lange und zwei Tonnen schwere Roadster bei der ersten Mitfahrt auf den kurvigen Landstraßen rund um den Nürburgring plötzlich so agil und aggressiv wirkt wie seine bösen Cousins aus der GT-Familie. Nur dass dieser Mercedes eben trotzdem nicht seine Manieren vergisst und auch den souveränen Bummel über den Boulevard beherrscht. Wofür schließlich gibt es gleich sechs unterschiedliche Fahrprogramme? 

Damit dieser Spagat gelingt und der SL seine Rolle als Souverän unter der Sonne behält, hat AMG auch bei der Aerodynamik alle Register gezogen. Neben einem halbwegs zugfreien Innenraum versprechen die schnellen Schwaben deshalb eine ausgewogene Balance aus maximalem Abtrieb und minimalem Luftwiderstand, die sie mit zwei aktiven Luftleitelementen erzielen: So thront nicht nur auf dem seifengleich sanft geschwungenen Heckdeckel, unter dem sich immerhin 240 Liter Kofferraum verbergen, ein beweglicher Spoiler, sondern auch unter dem Bug bewegt sich eine Karbon-Lippe passend zum Fahrprofil und saugt den Wagen bei Bedarf so fester an den Asphalt.

Auch wenn sie in ähnlichen Teichen fischen und der SL zumindest den GT Roadster künftig überflüssig macht, ist er kein verlängerter AMG GT im Maßanzug, rückt Technik-Chef Jochen Hermann die Geschichte zurecht: „Wir haben auf einem weißen Blatt angefangen.“ Deshalb ist der SL ein Solitär mit einem einzigartigen Aluminium-Spaceframe auf der selbsttragenden Struktur und mit einem anderen Layout: Um Platz im Fond zu gewinnen, wurde das Getriebe nach vorne verlegt und arbeitet direkt hinter dem Motor. Und während der GT-Fahrer fast auf der Hinterachse sitzt, sitzt man SL buchstäblich in der Mitte des Autos, erklärt Hermann. Das bringt viele Vorteile in Bezug auf Sicht und Wendigkeit, denn auch ein sportlicher SL muss alltagstauglich bleiben, während sich im GT alles der Rennstrecken-Performance unterordnet. 

Nur die Motoren kennt man natürlich bereits aus anderen AMG-Modellen – selbst wenn sich diesmal – ebenfalls ein charmanter Blick zurück – die Nomenklatur ändert. Denn zum 585 PS starken V8 aus dem Top-Modell SL 63 gibt’s eine zweite Variante mit 476 PS, für die das legendäre Kürzel SL 55 zurückkehrt. Erster entwickelt 800 Nm, schafft den Sprint auf Tempo 100 in 3,6 Sekunden und darf bis 315 km/h rennen, zweiterer ist mit 700 Nm, 3,9 Sekunden und 295 km/h kaum weniger vielversprechend. 

Aber dabei soll es nicht bleiben. Dem Zwölfzylinder erteilt Herman zwar eine Absage, weil der zwar zum Luxusgedanken passen mag, aber alles andere als sportlich ist. Doch für nicht ganz so bessere Besserverdiener dürfte es bald auch Sechszylinder geben, mit denen der Preis zumindest in Deutschland in die untere Hälfte der 100.000er sinkt. Und wer noch mehr Leistung und ein bisschen weniger schlechtes Gewissen will, der kann sich auf den Performance-Hybrid aus dem AMG GT freuen – mit fast 850 PS und einem Steckdosenanschluss. 

Natürlich hat sich Mercedes lange Zeit gelassen mit der Neuauflage des SL. Denn wo die Laufzeiten sonst allerorten schrumpfen und wichtige Autos mittlerweile oft schon nach sechs, sieben Jahren erneuert werden, hat der aktuelle Roadster bis zur Rente zehn Jahre durchhalten müssen. Aber auch mit dieser Zeitleiste folgt der SL einer gewissen Tradition. Denn bei bislang 69 Jahren SL-Historie und sechs Generationen liegt die durchschnittliche Laufzeit bei mehr als elf Jahren, und der R107 von 1971 hat es sogar auf 18 Jahre gebracht. Mit dem Nachfolger können sich die Schwaben deshalb jetzt also erst einmal wieder ein bisschen Zeit lassen.

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