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Mercedes Vision AVTR: Nachhaltiger Zukunftsluxus

Von Wegen Freiheit auf Rädern und Garant für individuelle Mobilität! Das Auto, noch bis vor kurzem für die meisten das liebste Kind und aus dem persönlichen Alltag nicht wegzudenken, ist vom Liebling zur Last geworden und vielen sogar ein Feindbild. Denn wie kaum ein anderes Produkt unseres Alltags steht es am Klimapranger und ist zum Synonym für die Verschwendung der Ressourcen geworden. Und all die vielen Elektroautos, die jetzt schon auf dem Markt sind oder in den nächsten Monaten kommen, werden daran kaum etwas ändern können. Deshalb trägt Mercedes jetzt ein bisschen dicker auf und holt sich dabei profunde Hilfe aus Hollywood.

Von Thomas Geiger

Zusammen mit den Traumtänzern von Disney und dem Regisseur James Cameron wollen die Schwaben beweisen, dass Menschen und Maschinen in Frieden miteinander leben können und dass Luxus eine Zukunft hat. Und wer das nicht glauben will, den erinnern sie an „Avatar“. Denn warum sollte den Menschen auf der Erde nicht gelingen, was den Na’vi im zweiterfolgreichsten Film aller Zeiten auf dem Planeten Pandora geglückt ist: Rücksichtsvoller Umgang mit Ressourcen und Freundschaften, die über einzelne Daseinsformen weit hinausgehen. „Wir können in Frieden mit der Natur leben“, ist Designchef Gorden Wagener überzeugt.

Natürlich ist das Fantasy und Science Fiction – aber was will man auch erwarten, wenn Autodesigner und Drehbuchautoren über die Kontinente hinweg zusammen arbeiten und sich von blauen Fabelwesen inspirieren lassen, die mit Bäumen sprechen und von fliegenden Quallen geheilt werden? Dafür hat das Ergebnis dieser Kooperation, das zwar im Kinofilm überhaupt keine Rolle spielen wird, dafür aber in diesen Tagen zum großen Star der Computermesse CES in Las Vegas avancieren dürfte, sogar noch überraschend viel Bodenhaftung. Denn wenn man bedenkt, dass Avatar im Jahr 2154 spielt, wirkt der Vision AVTR vergleichswiese up to date und ist eher eine Evolution des Vision EQS von der IAA 2019 als ein Zukunftsbote aus einer ganz fernen Zeit.

Das „One Bow“-Design jedenfalls, das den gute fünf Meter langen Flachmann in einem einzigen Bogen überspannt, kann man sich auch schon in ein, zwei Fahrzeuggenerationen vorstellen, und die über 30 kleinen, beweglichen Platten auf dem glatten Heck, die an eine Käsereibe oder, wie Mercedes meint, „ein Reptil“ erinnern und das Auto zusammen mit bald 20.000 LED und einer spektakulären Inszenierung förmlich lebendig erscheinen lassen, kennt man bereits von manch einem Supersportwagen – genau wie die Schmetterlingstüren, die hier allerdings eher an die Flügel von Insekten erinnern.

Wirklich abgedreht – und das im wörtlichen Sinne – sind deshalb eigentlich nur die Räder, die von innen beleuchtet sind, nach der Idee vom bionischen Design an Blütenkelche von Blumen erinnern sollen und eine ganz besondere Art des Fahrens ermöglichen: Weil sie fast so hoch wie breit sind, einzeln angetrieben und individuell angesteuert werden, kann sich der AVTR nicht nur vorwärts und rückwärts bewegen, sondern auch ohne Lenkeinschlag seitwärts fahren und sich deshalb – ein weiterer Brückenschlag zur Natur – wie eine Schlange bewegen.

Die Energie dafür liefert eine Batterie, die zwar bislang nur eine ferne Vision ist, dafür aber gut zur Idee vom nachhaltigen Luxus passt, denn die Zellen des neuen Energiespeichers kommen ganz ohne Metalle oder seltene Erden aus. Statt sich Gedanken über ein „Second Life“ zu machen, die Akkus zu recyceln oder im schlimmsten Fall einfach zu entsorgen, werden sie kurzerhand kompostiert. „So wird Elektromobilität gar vollends unabhängig von fossilen Ressourcen“, schwärmt Designchef Gorden Wagener.

Während der AVTR von außen durchaus noch etwas Automobiles hat, gibt es innen außer der Sitzordnung kaum mehr eine Parallele mit aktuellen Serienmodellen. Die Sessel sind verschlungen wie die Blätter, in denen die Na’vi so gerne kuscheln, und klassiche Bedienelemente gibt es keine mehr. Stattdessen glibbert in der rein weißen und absolut leeren Cockpitlandschaft lediglich eine Art Gummiqualle auf dem hohen Mitteltunnel, die sich dem Fahrer entgegenreckt, sobald er die Hand darauf legt. Dann wird daraus ein überraschend angenehm zu berührender Bionik-Joystik, mit dem man Tempo und Richtung vorgibt. Und wenn man seine Hand umdreht und offen in den Raum hält, erscheint darauf das Menü für das Infotainment und man wählt fast intuitiv aus, welche Inhalte über das plötzlich hell erleuchtete Armaturenbrett flimmern, als wäre es ein riesiger, organisch geformter Bildschirm, der sich da quer durch die gesamte Front spannt.

Natürlich ist die Studie völlig abgehoben und anders als in Hollywood wird sie in Sindelfingen auch in 100 Jahren nicht in Serie gehen. Doch stecken in dem Showcar gleich mehrere Botschaften, die Klimakümmerer genauso beruhigen sollten wie Petrolheads. Die einen, weil die Studie den Weg zu nachhaltigem Luxus weist und mehr auf Kooperation ausgelegt ist denn auf Konfrontation. Und die anderen, weil sie zeigt, dass es auch in 100 Jahren noch so etwas geben könnte wie ein Auto und dass man es – wenn auch nicht mehr mit einem klassischen Lenkrad – sogar noch selbst fahren kann. Vor allem aber zeigt die Studie, dass es um die PS-Branche nicht ganz so schlimm bestellt ist, wie viele fürchten. Denn auch wenn sich Mercedes Hilfe aus Hollywood geholt hat: Wenn Transformation hin und Gewinnwarnung her noch genügend Geld und Geistesblitze für ein solches Projekt bleiben, muss man sich um den Fortbestand der Firma allen Unkenrufen zum Trotz wahrscheinlich keine Sorgen machen. Zumindest nicht vor dem Jahr 2154.

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

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