Die Isle of Man ist das gallische Dorf des Straßenmotorrad-Rennsports. Auf der kleinen Insel in der Irischen See herrschen andere Gesetze als im Rest der Welt, und deshalb gibt es die Tourist Trophy immer noch.
Die haben alle einen Vogel! Und was für einen! Man möchte permanent den Kopf schütteln. Man tut es auch, wenn man das erste Mal auf der Isle of Man ist und – selbstverständlich per Motorrad! – den berühmten Kurs der Tourist Trophy abfährt. Der führt von der Hauptstadt Douglas über die Dörfer, dann über den Snaefell Mountain und schließlich wieder zurück. Über 37,733 Meilen (60,725 Kilometer).Von wegen Rennstrecke! Das sind stinknormale Stadt-, Dorf- und Landstraßen. Zwar schon durchgehend zweispurig. Aber gesäumt von Häusern, Mauern, Bäumen, Büschen, Zäunen, Brücken, Kilometer- oder vielmehr Meilensteinen, Felsen, durchsetzt von Kreisverkehren, Blumenrabatten, Randsteinen, Gehsteigkanten, Kanaldeckeln, aufgemalten und aufgeklebten Bodenmarkierungen, Bodenwellen, Schlaglöchern sowie sandigen oder geschotterten Banketten. Alles Dinge, die auf einer Rennstrecke gewöhnlich nichts zu suchen haben. Ganz abgesehen von den blinden Ecken, den übergangslosen Wechseln von freiem Geläuf auf schattige Alleen, engwinkelige Gassen und buckelige (Sprung-)Brücken. So gut wie völlig absent sind Sturzräume und Auslaufzonen. Hier und da gibt’s, wenn TT ist, ein paar Strohballen.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen und versuchen, im Hirn einzuordnen: In kaum mehr als 17 Minuten knapp einundsechzig Kilometer glühen, unter Volldampf über die Dörfer fahren (fahren ist hier eigentlich ein schwacher Hilfsausdruck), auf einer Strecke, die kaum zu merken ist. Und das betrifft nicht nur jene, die schon mit einem rund vier Kilometer langen permanenten Rundkurs fast überfordert sind.
Englische Straßenverhältnisse
Gefordert, das sind wir Kontinental-Europäer auf der eingangs angesprochenen Mountain Course-Besichtigungsrunde fürs erste auf alle Fälle. Im Alltags-Verkehr. Der nicht allzu dicht ist. Aber es wird halt auf der linken Straßenseite gefahren. Gut, das fiele ja im Rennen weg. Und ohnehin sind wir weit entfernt von Racing-Speed. Die örtliche Polizei ahndet Tempo-Übertreibungen streng und teuer. Im Ortsgebiet gelten 30 Meilen pro Stunde (48 km/h), auf den Landsträßchen zwischen den Dörfern sind es maximal 50 mp/h (80 km/h).
John Barton, Einheimischer, Liaison-Officer für Rookies und erfahrener TT-Racer (der sich regelmäßig unter den ersten Zehn eingereiht hat), fährt uns gewissermaßen als Pacemaker diese moderate Gangart vor. Die hat auch ihr Gutes. Es ist ausreichend Zeit, sich umzuschauen auf diesem Abschnitt des Eilands, das insgesamt so etwas wie eine Miniatur fast aller auf den Britischen Inseln vorkommenden Landschaftsformationen ist. Wir gleiten vorbei an idyllischen Weihern, blühenden Gärten, sanft welligen Weiden, verwunschenen Teichen, sprudelnden Bächen, stillen Seitentälern, dazwischen ein paar Gesteine und einige Brücken. Fast überall riecht es ein bisschen nach Moor und nach Meer – es ist wie im England-Bilderbuch. Wozu Katzen und Hunde und Schafe und Kühe und Pferde und Hühner und anderes Viehzeug gehören. Menschen sind nicht so viele unterwegs. Zumindest nicht zu Fuß. Alle, die ein Cabrio haben, nützen das auch als solches. Es hat am Vormittag eh schon knapp zehn Grad. Plus.
Wetterglück muss man haben
Denn das Wetter straft Erzählungen von fiesen Sturmböen-Spitzen, waagrecht daher stechendem Regen, undurchdringlichen Nebelschwaden geradezu Lügen. Glück muss man haben. Oder einen guten Kontakt zu den örtlichen Feen. Weshalb wir uns an der Fairy Bridge artig und danken verneigen. Um dann, auf freiem Land angekommen, John Barton gleich nach der erste Kurve verschwinden zu sehen. Hier ist das Speed Limit offen. Wer sich traut, kann schauen, wie hoch er die Tempo-Anzeige auf dem Tacho treiben kann. Im Falle einer Kawasaki Z750R waren es 135. Meilen. Pro Stunde. Das ist auch schon deutlich über den 200. Km/h.
In England war man in Punkto Mobilität der Zeit oft voraus. Dazu gehört auch, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rennen außerhalb von permanenten Rennstrecken verboten wurden. Die Folgen: einerseits geradezu eine Unzahl von fixen Racetracks, andererseits das Ausweichen. Auf die „Mann“, wie sich der Name dieses Eilands vom gälischen „Manx“ herleitet. Das gerade einmal 572 km2 große Fleckchen Festland (Wien ist 415 km2 groß) liegt mitten in der Irischen See, zwischen England, Wales, Schottland und Irland. Es gehört quasi nirgendwohin. Weder zum United Kingdom und schon gar nicht zur EU. Die Isle of Man ist direkt dem englischen Königshaus unterstellt. Und die Insulaner machen, als eigenes „Rechtssubjekt“, ihre eigenen Gesetze. Auch, was Straßenrennen betrifft.
Siegen mit 3,5 bis 5 PS
Begonnen hat das vor bald 110 Jahren. 1907 ging dieses älteste Straßenmotorrad-Rennen der Welt über einen 25 Kilometer langen Kurs (short course). Es war gedacht für Tourenmotorräder. Die ersten TT-Sieger waren Rem Fowler und Charlie Collier. Ersterer stellte sich mit einer Norton, befeuert von einem Peugeot-Zweizylinder mit fünf PS, an den Start. Er fuhr 225 Kilometer in mehr als vier Stunden. Zweiterer trat mit einer Matchless-Einzylinder und 3,5 PS an.
Die beiden Weltkriege bedingten Unterbrechungen in der Historie der Tourist Trophy. 1946 bis 1976 war sie fixer Bestandteil der FIM-Motorrad-WM. Von 1977 bis 1989 gab es eine eigene Weltmeisterschaft, die Formula TT, innerhalb derer die Man-Trophy gewertet wurde. 1957 fiel zum ersten Mal die 100-Meilen-Schallmauer (das sind knapp 161 km/h) für den Durchschnitts-Speed.
Seriensieger & Meister
Der Tourist Trophy-Legenden gibt es zahllose. Aus den nicht nur den in die Jahre gekommmen Racing-Fans bekannten Namen wie Geoff Duke, Phil Read und Mike Hailwood – nebst vielen anderen – ragt einer heraus: Joey Dunlop, mit 26 TT-Titeln. Er, respektive die Stein gemeißelte Skulptur, schaut nun auf ewig auf den Mountain Course. Outstanding, wie der Engländer sagt, ist auch (Sir) John Surtees. Er ist bislang der Einzige, der sowohl in der Motorrad- als auch in der Formel I-Weltmeisterschaft gesiegt hat: zweirädrig 1956 – 1960 (auf MV Agusta), vierrädrig 1964 (auf Ferrari).
Nicht wenige Österreicher stehen in Zusammenhang mit der Isle of Man-TT. Namen wie Michael Stirner, Toni Rechberger und Horst Saiger tauch(t)en regelmäßig in den Starterlisten auf. Allen voran gefahren ist jedoch Rupert Hollaus. Er siegte 1954 auf NSU. Seine Position als einziger österreichischer TT-Sieger in der Solo-Klasse – und gar nicht nebenbei ebenso als Straßenmotorrad-Weltmeister – konnte ihm bis heute keiner streitig machen. In der Seitenwagen-Klasse hat Klaus Klaffenböck bei der TT zum Beispiel 2010 mit Beifahrer Daniel Sayle gleich zwei Siege eingefahren. Mittlerweile lebt der Oberösterreicher auf der Isle of Man und unterhält unter anderem ein Racing-Team. Seinen Spuren folgt Michael Grabmüller, mit seinem Delta Racing-Team, das auch in der Endurance-WM mit mehr als nur Achtungserfolgen aufwarten kann.
Stars aus der MotoGP und der Superbike stehen nicht am Start. Und wenn, dann maximal für eine Lap of Honour. Für Rossi & Co., alles keine Waisenknaben, ist die TT zu gefährlich. Eine der – siegreichen – Ausnahmen war der Brite Carl Fogarty, seines Zeichens vierfacher Superbike-Weltmeister.
Ein ansteckender Virus
Doch auf eines muss man sich gefasst machen: Der Spirit der Tourist Trophy ist wie ein ansteckendes Virus-Fieber. Dem man auch nicht entkommt, wenn man abseits der Races dorthin reist, ob per Schiff oder per Flugzeug, ob mit dem eigenen Motorrad oder mit der Absicht, sich eins auszuborgen. Die TT ist omnipräsent, sogar jede Parkbank trägt ihren Stempel. Eisen stehen an jeder Hausecke und Freilandstrecke, immer und überall. Wie sonst könnte es auch erklärbar sein, dass man auf der zweiten Mountain Course-Runde schon auf Einlenk- und Bremspunkte achtet, fast so wie auf der individuellen Hausstrecke.
Text: Beatrix Keckeis-Hiller
Fotos: www.iomtt.com, Motocom, Archiv, Fottofinders, Beatrix Keckeis-Hiller, Philip Magner