Die elektrische Revolution ist ein Kraftakt, der selbst wohlhabende Industrienationen mächtig fordert. „Wie sollen das erst Schwellen- oder gar Entwicklungsländer schaffen,“ fragt sich Paul Leibold mit Blick auf prekäre Einkommensverhältnisse und Infrastrukturen, in denen von einer flächendeckenden Stromversorgung keine Rede ist. Von Ladesäulen ganz zu schweigen. Doch individuelle Mobilität ist für den einstigen BMW-Entwickler ein Menschenrecht, von dem man Afrikaner oder Asiaten genauso wenig ausschließen darf wie Zentral-Europäer oder US-Amerikaner – selbst wenn mit der Elektromobilität die Hürden noch einmal höher werden.
Fotos: Hersteller/Felix Happen
„Wenn sich nicht jeder ein Auto leisten kann, dann muss man den Menschen zumindest einfachen Zugang zu einem Fahrzeug verschaffen,“ sagt Leibold und lenkt den Blick auf den City One, den er mit pfiffigem Packaging, innovativem Antriebskonzept, radikal reduzierten Betriebskosten und flexiblen Einsatzprofilen in ein paar Jahren als Entwicklungshelfer zu tausenden in die Metropolen der dritten Welt schicken will. Im Flotteneinsatz als Taxi, Mietwagen oder Kleintransporter soll er dort zu minimalen Kosten maximale Mobilität ermöglichen und dabei die Risiken und Nebenwirkung der Massenmotorisierung möglichst geringhalten. Denn natürlich fährt der City One elektrisch.
Als er bei BMW mit am i3 entwickelt hat, ging es noch um urbane Premium-Mobilität, um Status und um Mode. Beim City One dagegen geht es vor allem um einen möglichst niedrigen Preis, um maximale Haltbarkeit und optimale Raumausnutzung.
Deshalb sieht der City One aus wie ein Rimowa-Koffern auf Rädern, ist mit seiner Kunststoffkarosserie ähnlich unverwüstlich und wiegt obendrein keine 1.000 Kilo. Und obwohl er gerade mal 3,60 Meter lang ist, bietet er innen deutlich mehr Platz als etwa der VW Up, mit dem Leibold jeden Tag in sein Tiefgaragen-Start-Up stromert. Dünnen und sehr steilen Sitzen sowie tiefer Ausschnitte für die Füße sei Dank, fahren im Fond selbst Erwachsene zumindest auf Kurzstrecken überraschend bequem. Und wenn man die Rückbank umgelegt, wird der Zauberwürfel zum Kastenwagen, aus den Kopfstützen wird ein stabiles Trenngitter und durch die breite Hecktür passt sogar eine Euro-Palette.
Weil der Prototyp noch den Antrieb eines ausgeschlachteten Renault Twizy nutzt, reicht es bei der ersten Ausfahrt für nicht viel mehr als Schrittgeschwindigkeit, selbst wenn der City One später mal 110 km/h schaffen soll. Und natürlich gibt es auch an Fahrwerk und Lenkung noch ein bisschen was zu tun. Aber anders als in seinen BMW-Zeiten spielt Fahrfreude für Leibold bei diesem Projekt ohnehin eine untergeordnete Rolle. Genauso wie das Ambiente im quietsch-orangen, gleichwohl eher nüchternen Cockpit mit seinen minimalistischen Instrumenten und noch weniger Bedienelementen. Wichtig ist allein, dass man damit überhaupt fahren kann. Und zwar immer und überall.
Deshalb haben Leibold und sein Team, zu dem neuerdings auch der ehemalige Opel-Chef Karl-Thomas Neumann zählt, ein pfiffiges Batteriekonzept entwickelt, das die Kosten klein und die Flexibilität groß hält. So ist unter den Vordersitzen ein Hochvolt-Akku verbaut, der mit 16 kWh kleiner ist als in manchem aktuellen Plug-In-Hybriden. Auch wenn der City One extrem leicht und ziemlich langsam ist und deshalb weniger als 10 kWh auf 100 Kilometer verbrauchen soll, sind damit natürlich keine großen Sprünge drin. Doch dafür braucht dieser Akku keinen Schnelllader und keinen Starkstrom, sondern ist über Nacht auch an der Schuko-Steckdose wieder voll.
Wer trotzdem weiter fahren will, für den gibt es vier Wechselakkus von jeweils 2,5 kWh, die in einem speziellen Rollkoffer daheim geladen oder als Powerbank für mobile Werkstatteinsätze genutzt werden können. Jeder etwa zehn Kilo schwer und so groß wie zwei Telefonbücher, werden sie mit zwei Handgriffen in den Kofferraumboden geschoben und erweitern den Aktionsradius auf zusammen bis zu 240 Kiloimeter. „Das sollte in jeder Stadt der Welt reichen, um mit einem Taxi über zwei Schichten pro Tag zu kommen“, ist Leibold überzeugt. Und wer drei Schichten fahren will, kann vier weitere Power-Packs in einem speziellen Dachträger mitnehmen und an jedem Parkplatz tauschen.
Aber es geht Leibold nicht allein um ein günstiges Auto, das auch in labilen Stromnetzen halbwegs gut geladen werden kann. Sondern damit sich der Preis von 10.000 bis 15.000 Euro pro Fahrzeug für die Betreiber möglichst schnell rechnet, hat Leibolds Firma Adaptive City Mobil (ACM) parallel ein digitales Portal entwickelt, das eine hohe Auslastung jedes Autos gewährleisten will: So sollen Flottendienstleister den City One stunden- oder kilometerweise als Taxi, Kuriertransporter, Leihwagen oder Sharing-Auto einsetzen können und ihn dann rund um die Uhr Geld verdienen lassen. Außerdem wollen die Betreiber den Wagen mit Werbung refinanzieren und haben deshalb einen großen Bildschirm im Heckfenster installiert, auf dem maßgeschneiderte Anzeigen geschaltet werden – passend zum Ort und zur Tageszeit.
In der Theorie steht das Konzept, der Prototyp fährt und die Idee ist so vielversprechend, dass sich Branchenriese Magna darauf eingelassen und die Serienentwicklung übernommen hat. Und seit dem IAA-Debüt haben Leibold & Co über 300.000 Vorbestellungen in den Büchern. Das dürfte den anstehenden Verhandlungen mit verschiedenen Produktionspartnern natürlich vor allem in Asien und Afrika einen gewissen Nachdruck verleihen. Doch damit der City One ins Rollen kommt und Leibold tatsächlich Ende 2023 liefern kann, muss er jetzt erst noch einmal Geld auftreiben, viel Geld sogar. Zwar hat er seit Projektbeginn jedes Jahr erfolgreich ein oder zwei Finanzierungsrunden hinter sich gebracht. Doch gemessen am aktuellen Finanzbedarf waren die ersten Millionen nur Kleingeld. Diesmal geht es um einen besonders dicken Batzen. „Wir reden über einen hohen dreistelligen Millionenbetrag.“ Denn auch billige Elektromobilität ist erstmal ein teures Vergnügen.
Aber wenn die Rechnung aufgeht, könnte der City One einen ähnlichen Weg gehen wie nach dem Krieg der Käfer und so zum neuen Volkswagen der Generation E werden – allerdings in umgekehrter Richtung. Denn auch wenn Leibold den elektrischen Entwicklungshelfer vor allem mit Blick auf Afrika, Asien und Südamerika entwickelt hat, stammen überraschend viele Vorbestellungen kommen auch aus Industrienationen in Europa und Amerika. Aber vielleicht ist das kein Wunder, wenn das bislang billigste Elektroauto bei uns für rund 20 Riesen angeboten wird und VW schon froh ist, wenn der ID Life in vier Jahren tatsächlich für 20.000 Euro in Serie geht. Gut möglich also, dass der City One nicht nur als Prototyp durch München fahren wird, sondern bald auch als Serienauto. Schließlich sind wir – zumindest was die Elektromobilität angeht – ja irgendwie auch ein Entwicklungsland.