Man könnte sich ja schließlich auch in Superlativen ergießen, nach drei, vier Stunden mit einem neuen, tollen 100.000 Euro-Auto von jener Marke, der man bekanntlich auch privat stets zugetan war, weil man durch einen ihrer Proponenten in Papas Garage frühkindlich geprägt wurde. Zugegeben, der Reflex war da. Der Volvo EX90 fährt sich sehr gut, sehr bestimmt, ist bequem, versprüht Hi-Tech-Flair aus jeder Pore und er ist ein ausnehmend schönes Auto, außen wie innen. Beim Design wurde äußerst achtsam vorgegangen, man kann sich förmlich ausmalen, wie bei jedem Falz, jeder Ecke, jeder Sicke, jeder Biegung hochkonzentriert am Bleistift gekiefelt wurde, bevor sie finalisiert wurde. Schließlich gilt es bei Fahrzeugen wie diesem eine gesunde Balance zwischen Futurismus, Traditionalismus und Eigenständig zu finden. Wir leben bekanntlich in Zeiten, in denen jedes noch so kleine Detail gerne überinterpretiert wird. Und zu haarsträubenden Schlüssen verlockt, welchen Weg die Marke, deren Produkt man gerade inspiziert künftig einschlagen wird.
Obwohl – bei Volvo bleibt da wenig Ratespielraum. Die Richtung zeigt für die Zukunft klar zur E-Mobilität, ab 2030 soll jeder neue Volvo ein BEV sein, bis 2040 will die ganze Firma klimaneutral auftreten. Anders als bei anderen nimmt man den Schweden mit chinesischem Hintergrund (der Geely-Konzern bringt etwa auch den neuen, von Mercedes völlig entwurzelten smart heraus, und, natürlich auch die rein elektrische Volvo-Sidestep-Marke Polestar) dieses Vorhaben auch tatsächlich ab. Schon jetzt ist ein guter Teil der Flotte elektrisch, bei den Hybriden war man sowieso eine Art Vorreiter und auch das Design gibt sich schon seit längerem darin höchst ambitioniert, per fehlendem oder g’schamig verstecktem Kühlergrill auf die Stromstärke des jeweiligen Modells hinzuweisen.
Trotzdem ward dem EX90 schon am Kindbett eingebläut, sich nicht für seinen direkten Vorfahren zu genieren. Die Rede ist vom XC90, der vorerst ja nicht – wie lange erwartet – vom EX90 ersetzt wird, sondern ebenfalls gerade runderneuert wurde. Oder sagen wir mal – weitgehend. Es ist dies Fahrzeug ein veritabler Erfolg der Marke, wenngleich er nun schon seit gut zehn Jahren relativ unverändert auftritt. Derlei hielt ihn aber nicht davon ab, etwa im Vorjahr besonders oft gekauft worden zu sein – satte 52 Prozent Absatzsteigerung konnte das (noch) Vorgängermodell des eben erfrischten 2024 hinlegen. Wohl durch attraktive Preisgestaltung befeuert, aber wir sprechen hier ja doch von einem großen, teuren Automobil, das man nicht gerade beim Diskonter abverkauft. Aber wir schweifen ab, zurück zum EX90.
Sicherheit steht im Vordergrund, nona, werden Sie jetzt sagen, aber man hatte doch in den letzten Jahren den Eindruck, dass Volvo von seiner über 50 Jahre lang heiß gedengelten Kernkompetenz ein bissl abweicht, um beim Marketing die elektrische Transformation in den Vordergrund zu rücken. Hier schlägt der Volvo EX90, obwohl ja vollelektrisch, wieder einen deutlichen Pflock zurück zum Markenkern ein. Höchst stolz verweist man mal wieder auf das hehre Ziel, dass in oder durch einen Volvo künftig kein Mensch mehr zu Tode kommen soll. Außen wie innen ist, sowohl passiv wie aktiv, so ziemlich jedes Detail in irgendeiner Art und Weise auf Sicherheit gebürstet. Was auch weit über den tatsächlichen Betrieb, oder, sagen wir mal, das erweiterte Arbeitsfeld eines Automobils hinausreicht.
Auch wenn das im schwedischen Marketingsprech vornehmer klingt: Dabei wird auch die mutmaßliche Vertrotteltheit des Fahrers oder Betreibers des Volvo EX90 eingepreist. Ein Beispiel: Wenn der Wagen etwa durch noch so penetrantes Geklingel darauf hinweist, dass man gerade drauf und dran ist, seinen Hund, oder noch schlimmer, sein Kind im Auto zu vergessen, wird es immer wieder doch noch Leute geben, die das absichtlich ignorieren, weil sie ja nur kurz Zigaretten holen gehen (obwohl – gibt’s so wen noch?). Dann rümpft der EX90 virtuell über seinen infamen Besitzer die Nase und versucht, so effizient wie möglich den Schaden zu begrenzen. Etwa durch Vollhochfahren der Klimaanlage oder das Entriegeln der Türen, auf dass zugegene Helfer nicht erst die Scheiben einhauen müssen. So schlau, so cool.
Etwas weniger erfreut uns allerdings ein weiteres Feature, auf das man bei Volvo in Hinblick auf den EX90 ziemlich stolz ist. Er ist das Auto mit dem weitgehendsten und schlausten Fahrerüberwachungs-System am Markt. Und wer viele neue Autos fährt, der interpretiert eine derartige, freudvoll vorgetragene Ankündigung des Herstellers schnell auch mal als manifeste, gefährliche Drohung. Schließlich haben moderne Autos – teils vorgeschrieben, teils in vorauseilendem Gehorsam – schon jetzt die penetrante Eigenschaft, ihre Fahrer permanent und vollumfänglich als inbezille Vollidioten hinzustellen. Du fährst zu schnell, du verlässt die Spur, du bist müde, du bist falsch abgebogen, du fährst zu rasant auf die nächste Kreuzung zu, sowieso fährst du immer zu knapp auf, beim Einparken bist du stets im Begriff, beim hinter oder vor dir stehenden mit vollster Absicht einen Totalschaden zu produzieren und all das wird immer immer immer und mit Verve durch lautes Piepsen, Kreischen, Scharren, Ruckeln oder Vibrieren kundgetan, sodass man es auch noch Gassen weit entfernt vom eigentlichen Geschehen gut mitbekommt (ein Schelm wer denkt, dass auch Versicherungen oder Verkehrsstrafbehörden munter dabei mitlauschen, was man denn jetzt schon wieder alles falsch gemacht hat) und jeder, wirklich jeder Mitfahrende es sich stantepede überlegt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen ist, bei einer solchen Nulpe mitzufahren.
Neinneinnein, so isser nicht, der EX90, sagen die bei Volvo. Er schreit nicht, er handelt. Und dabei spielt auch das nette, schwarze Taxischild (irgendwie erinnert es vom Aussehen her an ein London-Taxi) über der Windschutzscheibe eine wichtige Rolle. Hier verbirgt sich – noch nicht, aber bald! – der sogenannte Lidar-Sensor, der mittels Frontradar, Seitenradar und Frontkamera die Fahrzeugumgebung bei Tag und Nacht im Auge behält. Erkannt werden andere Fahrzeuge (fahrende oder stehende Pkw, Lkw und Busse), Motorräder, Motorroller, Radfahrer und Fußgänger – im Querverkehr, im Gegenverkehr und in Fahrtrichtung. Die Sensoren erfassen auch große Tiere auf der Fahrbahn, sowie Straßenränder, Fahrbahnmarkierungen oder Straßenschilder – also eh alles. Diese Flut an Informationen wird dann – aktiv – vom optionalen Fahrerassistenten Pilot Assist verwertet, oder – passiv – via ADAS (Advanced Driver Assist System) dem Fahrer zur Kenntnis gebracht. Auch die Fahrerüberwachung (was noch immer nicht fein klingt, oder?) wird im EX90 auf ein neues Level der Funktionalität gehoben, heißt es, wortwörtlich: „Sie überwacht den Zustand des Fahrers über ein bisher bekanntes Maß hinaus.“ Hm.
Ansonsten kennt man das Prozedere: Das neue Fahrer-Monitoring-System beobachtet, wohin der Fahrer schaut und wie oft und wie lange seine Augen geschlossen sind. Auf Grundlage der Volvo Forschungsergebnisse erkennt das Sensorsystem dann, ob die Leistungsfähigkeit des Fahrers durch Schläfrigkeit, Ablenkung oder andere Formen von Unaufmerksamkeit beeinträchtigt ist – auch wenn Fahrassistenzsysteme wie Pilot Assist aktiviert sind. Dass derlei zu Mißverständnissen führen kann, die mitunter böse enden können (etwa in Vollbremsungen auf der Autobahn), ist bekannt, bei unserer ersten Auffahrt fiel das System allerdings nicht unangenehm auf. Womit wir endlich im Kern der Geschichte angekommen sind.
Wie fährt sich der neue Volvo EX90?
Kurz gesagt: großartig. Das Fahrwerk (Aluteile, optional Luft-betrieben, Zweikammern-System) findet einen perfekten Kompromiss zwischen hart und weich, niemals wird ungut herumgeschwommen, oder aber zu brüsk der Fahrbahnzustand durchgegeben. Wir durften die stärkste der drei verfügbaren Varianten (einmal alles mit Allradantrieb und 517 PS) ausführen, der Einstieg in die EX90-Welt findet weiter unten statt, beim Single-Hecktriebler mit 279 PS, dazwischen gibt es noch einen Mittel-Allradler mit 408 PS, allesamt reichen die nominal irrwitzigen Leistungsdaten für zügigen Antritt. 617 Kilometer Reichweite (für den Einsteiger) bleiben zwar vor allem im Winter im Märchenland namens WLTP, dennoch lässt sich der EX90, glaubt man dem Bordcomputer, durchaus wirtschaftlich bewegen. Im Schnitt kamen wir bei entspannter Fahrweise auf rund 25 kw/h durchschnittlich, die Reichweitenanzeige ersparte sich große Bocksprünge und blieb stabil im grünen Bereich von etwa 360 Kilometern ab Start. Bissl problematisch für ein völlig neues Auto: Die Lade-Modalitäten sind nicht am Letztstand der Technik, weder ist 400 Volt-Technologie, noch sind mehr als 250 kw an der Gleichstrom-Schnelltanke drin, da können etwa Kias, Hyundais oder auch Porsches Taycan mehr. Fest steht dennoch: Es wird ausreichen. Weil diesbezügliche Probleme finden sich nach wie vor weit häufiger auf Provider-Seite.
Ein Zauberwort, das wir seit jeher mit Autos von Volvo verbinden, kommt auch bei der Reise nach Hainburg mit dem neuen EX90 schnell und nachhaltig auf: Souveränität. Dahingleiten ist Trumpf, die unendlichen Weiten des Innenraumes (als 5-, 6- oder 7-Sitzer konfigurierbar) fordern die famose Bowers & Wilkins-Anlage insofern heraus, als man für die letzte Reihe eigentlich eine Signalverschiebung installieren müsste, wie das im Praterstadion bei großen Gigs üblich ist. Die Sitze sind gut und durchwegs unbeledert, im Dienste der Nachhaltigkeit arbeitet man etwa mit Wolle oder dem selbstentwickelten, aus Vinyl und ehemaligen PET-Flaschen bestehenden Stoff Nordico, wie üblich wird auf derlei Sensationen im Marketing eine Spur zu oft hingewiesen. Interessant auf der Gefühlsebene: obwohl Platz ausreichend vorherrscht, fühlt man sich am Fahrersitz dennoch angenehm eingekastelt und somit sicher untergebracht. Und die Bedienerei mit großem Display, einigen Lenkradtasten, aber sonst verblüffend wenigen Bedienelementen, verdient sich einen eigenen Absatz.
Telematik total, oder wie das heute heißt …
Google spielt hier eine ausnehmend wichtige Rolle, nicht nur bei der Navigation. Zwei Displays, ein kleines über dem Lenkrad, ein riesiges in der Mitte, teilen sich die Info-Arbeit. Wobei – und das war schon beim XC90 bisweilen so –, wenn das Mittlere aus irgendwelchen Gründen zum Black Mirror wird, liegt fast die gesamte Bedienung des Wagens im Argen. Nicht nur Navi, Telefon oder HiFi sind hier zuhause, auch die Klimatisierung, alle übrigen Fahrzeug-Apps sowie die Assistenzfunktionen (und deren etwaige Deaktivierung!). Tatsächlich gestaltet sich das Surfen durch die Menüs und deren Kellerräume verblüffend kommod und intuitiv, nach den wenigsten Features sucht man wirklich lange. Das anderswo nervig in Mode liegende „Während der Fahrt nicht bedienbar!“-Stopschild kommt hier weniger oft zum Einsatz, als man das befürchtet hätte und tatsächlich bieten die wenigen, aber intelligent belegten Lenkrad-Tasten eine durchwegs schlaue und patente Möglichkeit, das Fahrzeug bis ins kleinste Detail hinein zu bedienen.
Google HD Maps wird vom Hersteller hervorgehoben, mit gutem Grund: Die hochauflösende, speziell für Automobilhersteller entwickelte Karte spannt in Kombination mit dem bereits genannten Lidar ein Info-Netz, das den Weg für das künftige autonome Fahren des Premium-SUV ebnen soll. Schon jetzt kann er Spurwechseln und selbssttätig überholen, wenn man ihn mit einem Blinkerhebel-Antipper dazu motiviert; Ausprobieren konnten wir das Feature noch nicht, dazu war zu viel Verkehr auf der A4.
Kleines Goodie am Rande: Die für die online-basierten Dienste und Apps erforderliche Internetverbindung – inklusive Datenvolumen für vier Jahre – ist im Lieferumfang bereits enthalten, was auch mit der vielgepriesenen, zukunftsweisenden Fähigkeit des Autos, OTA-Serviceleistungen vorzunehmen, zusammenhängt. Was das ist? Wir wussten es auch nicht: OTA steht für „Over The Air“ und heißt nicht weniger, als das Software-Updates, aber auch gewisse Serviceleistungen, für die es keinen Schraubenzieher braucht (und davon gibt es ja immer mehr) sozusagen online durchgeführt werden, also daheim am Parkplatz, während man schläft (und der Wagen bestenfalls von der PV-Anlage saugt). Auf- und Zugesperrt wird übrigens übers Smartphone, Tesla-Fahrer kennen das, ob sie es auch zu lieben gelernt haben, bleibt offen. Bei unserer Testfahrt musste man sich noch mit einem Doggle begnügen, der sehr exakt auf eine gewisse Stelle auf der Mittelkonsole gelegt werden wollte, damit das Auto startet.
Und dann müssen wir doch noch mit der Assistenz schimpfen: Nein, es ist nicht unbedingt erforderlich, beide Hände immer in der sprichwürtlichen zehn-nach-zehn-Haltung auf dem Lenkrad zu haben, um auch nur irgendeine Überlebenschance auf der Autobahn zu haben. Ich zB hab gerne meinen linken Arm am Fensterbrett und klemme das Lenkrad zwischen Daumen und Finger der linken Hand. Das ist stabil, erprobt und bewährt – aber dem Volvo EX90 zu wenig. Nach nur 10 Sekunden begann er damit mich anzubrüllen, ich solle das Lenkrad in die Hand nehmen. Erst als ich es wie wild zu schütteln begann, glaubte er mir. Sofort ging die Warnlampe aus, zufrieden, weil endlich Ruhe eingekehrt war, bog ich bei 130 im rechten Winkel ab und flog von der Europabrücke, das Lenkrad fest in Händen …