Es sind nur ein paar Millisekunden. Doch sie reichen aus, um nicht nur zwei Mercedes zu zerstören, sondern gleich auch noch ein paar Mythen. Denn um zu beweisen, dass Sicherheit keine Frage des Antriebs ist, haben die Schwaben jetzt in ihrem Unfallzentrum Sindelfingen zum ersten Mal vor großem Publikum einen Crashtest mit zwei Elektroautos inszeniert und dabei in jeder Hinsicht bewusst die denkbar ungünstigste Kombination gewählt. Denn mit EQS SUV und EQA haben sie ihr größtes auf ihr kleinstes Modell auf der Electric Avenue losgelassen, und während die Normen von Politik und Euro-NCAP beim Frontalcrash nur 50 km/h und beim Gegner 1,4 Tonnen Fahrzeuggewicht vorschreiben, hatten die beiden mit 3,0 und 2,2 Tonnen deutlich schwereren Probanden hier 56 km/h auf dem Tacho.
Fotos: Hersteller
Daraus resultiert zwar eine gewaltige Begegnungsgeschwindigkeit von 112 km/h, es gibt beim Aufprall einen Höllenlärm, beide Vorderwagen sind zerknäult wie eine Papiersackerl, Zierkonsolen zerbröseln zu Kunststoff-Granulat und Trümmerteile von der halben Felge bis zum Scheinwerfer liegen meterweit verstreut. Doch als sich der Gasnebel der Airbags lichtet, die Blendwirkung der Studioscheinwerfer nachlässt, die Warnlampen aus- und die Saalbeleuchtung wieder angeht und nach sekundenlangem Rauschen auch das Pfeiffen in den Ohren verklingt, haben die Ingenieure um Sicherheitschef Paul Dick ein Strahlen im Gesicht: Denn der Grad der Zerstörung zeigt ihnen nur, dass die Crashenergie wirkungsvoll abgebaut wurde, bevor die Kabine oder der Akku hätten zu Schaden kommen können: Die Türen lassen sich deshalb problemlos von Hand öffnen, die Batterie ist noch in Takt und die Datenrekorder der Crashtest-Dummies weisen Belastungen aus, die auch Menschen aus Fleisch und Blut mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne schwere Verletzungen weggesteckt hätten. Damit räumt Mercedes mit dem Vorurteil auf, dass Elektrofahrzeuge weniger sicher seien: „Für uns ist der Schutz keine Frage des Antriebssystems“, sagt Markus Schäfer, der als Entwicklungsvorstand auch oberster Hausherr ist im Crashzentrum, in dem pro Jahr über 900 Neuwagen der Sicherheit geopfert und gegen die Wand, einen Pfahl, eine Barriere oder eben gegen ein anderes Auto gefahren werden. „Dieser Crashtest beweist, dass alle unsere Fahrzeuge ein vergleichbar hohes Sicherheitsniveau haben – egal mit welcher Technologie sie angetrieben werden.“
Däfür müssen die Entwickler allerdings ein wenig umdenken, räumt Julia Hinners ein: Denn natürlich sei die Physik für alle Autos gleich und bei Kollisionen gehe es vor allem um Massen und um Geschwindigkeiten. „Doch gibt es zwischen Elektroautos und Verbrennern sehr wohl ein paar Unterschiede, die wir bei der Auslegung der Crashsicherheit beachten müssen“, sagt die Unfall-Expertin. Die Batterie im Boden muss deshalb nicht nur bestmöglich geschützt werden, sondern sie ändert auch die Lastpfade für die Aufprallenergie und schmälert etwa bei seitlichen Karambolagen spürbar die Knautschzone – weshalb zum Beispiel der EQS besonders aufwändig gefaltete Schweller und Einstiegsleisten bekommt, die einen Großteil der Verformungsenergie aufnehmen können.
Was den Crashexperten im Boden zum Nachteil gereicht, wird im Bug zum Vorteil. Mussten sie sich dort bislang mit einem zentnerschweren und bocksteifen Motor arrangieren, der schlimmsten Fall wie ein Rammbock in die Kabine drängt, haben sie mit den E-Maschinen buchstäblich leichtes Spiel. Schließlich sind die leichter, kleiner und sitzen zumeist auch näher an den Achsen. „So gewinnen wir jede Menge Raum für Sicherheit,“ freut sich Hinners. Auch das ist ein Grund weshalb der Bug des EQS SUV unten auf der Crashbahn bald einen Meter weit eingedrückt ist und so auch die Insassen des kleineren EQA geschützt hat. „Das ist es, was wir unter Kompatibilität verstehen: Der Große trägt die Last des Kleinen ein Stück weit mit.“
Neben Geometrie und Gewicht müssen die Entwickler freilich noch ein paar weitere Eigenheiten der Elektroautos berücksichtigen – insbesondere das Hochvolt-System. Denn anders als bei der 12 Volt-Batterie des Anlassers fließen hier starke Ströme, die im Gefahrenfall sofort unterbrochen werden müssen. Dafür hat Mercedes ein mehrstufiges Hochvolt-Schutzkonzept entwickelt, zu dem unter anderem separate Plus- und Minusleitungen oder eine automatische Abschaltung zählen. Spätestens, wenn ein Airbag auslöst, kappt die Elektronik deshalb alle Kabel.
Zwar haben die Schwaben mit der Karambolage auf der Electric Avenue eindrucksvoll bewiesen, dass sie in Sachen Sicherheit beim Antrieb keinen Unterschied machen. Doch zumindest in ihrem Crashzentrum arbeiten auch sie mit Netz und doppeltem Boden und haben – Safety First – entsprechend Vorsorge getroffen. Noch bevor die Ingenieure an die beiden Wracks dürfen, kommt deshalb die Feuerwehr und misst bei EQS und QAQ Fieber. Und falls sie tatsächlich erhöhte Temperatur wahrnehmen sollten, steht nebenan mit laufendem Motor ein riesiger Gabelstapler, der die Unfallfahrzeuge vor der Halle in einem Tauchbecken versenken würde, um so mögliche Brände zu löschen.
Heute allerdings bleibt der Stapler stehen und die Pools werden allenfalls für die After-Work-Party benutzt. Und Mercedes setzt alles daran, dass das auch in Zukunft so bleibt. Schließlich wollen die Schwaben bis 2030 die Zahl der schweren Verletzungen oder Todesfälle mit Beteiligung eines ihrer Autos halbieren und bis 2050 ganz auf Null herunterfahren. Und weil sie bis dorthin längst nur noch Elektroautos verkaufen werden, ist das ein weiterer Grund, bei der Sicherheit keine Unterschiede und erst recht keine Kompromisse zu machen.