Ferrari Purosangue: Das beste, schlechteste Nicht-SUV

Eine Stunde Erklär-Video, drei Workshops und ein Designrundgang – wenn Ferrari ein neues Auto vorstellt, ist das erst einmal harte Arbeit. Erst recht, wenn die Italiener dabei Neuland betreten. Doch so viele Worte sie über den ersten Viertürer in der Firmengeschichte auch verlieren, kommt ihnen eines dabei nicht über die Lippen: SUV. Denn obwohl sie damit selbstredend auf Konkurrenten wie den Lamborghini Urus und den Aston Martin DBX in der Performance-Wertung und Bentley Bentayga oder Rolls-Royce Cullinan im Prestige-Ranking abzielen und obendrein endlich einen Ferrari für alle Tage anbieten wollen, sind die Italiener viel zu stolz und stur, um sich einem schnöden Trend zu beugen. Deshalb sprechen sie lieber vom Sportwagen mit erweitertem Alltagsnutzen, nennen ihn Purosangue und positionieren ihn als Vollblut-Ferrari.

Und wer daran auch nur den kleinsten Zweifel hegt, dem empfiehlt sich zunächst mal ein Blick in die Preisliste, die von einem fast schon arroganten Selbstbewusstsein zeugt, wie es das so nur bei Ferrari gibt. Denn mit 380.000 Euro (D) setzt sich der Purosangue wie selbstverständlich an die Spitze jenes Segmentes, dem er eigentlich gar nicht angehören möchte. Und dafür gibt’s Ledersitze nur gegen Aufpreis und ein Navi nicht einmal für Geld und gute Worte.  

Als Ferrari reinsten Wassers, äh Blutes, erweist sich der Purosangue auch beim Antrieb. Denn was könnte typischer sein für die Italiener als ein saugender V12, der konkurrenzlos hohe Drehzahlen erreicht und dabei leidenschaftlicher singt als jede Diva in der Arena di Verona. Und obendrein hat der Motor so viel Power, dass die Pfunde bei diesem Koloss wie von selbst purzeln. Was sind schon 2.033 Kilo Leergewicht, wenn beim Kickdown 725 PS an ihnen zerren und 716 Nm die Haftkraft der Reifen auf die Probe stellen, die vorn auf 22er- und hinten auf 23er-Felgen aufgezogen sind? Ehe der Fahrer realisiert, was da gerade um ihn und mit ihm passiert, schnellt der Purosangue deshalb in 3,3 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 und gibt sich dem Fahrtwind erst weit jenseits von 310 km/h geschlagen. Mit einem SUV hat das tatsächlich nicht viel zu tun, erst recht nicht, wenn der Allerwerteste dabei beinahe am Asphalt schleift. 

Ja, es gibt natürlich auch ein paar SUV, die ähnliche Zeiten auf den Asphalt brennen. Doch wo die ihre Kraft mit dem Holzhammer heraus prügeln, wirkt der Ferrari filigran und fährt sich scharf wie ein Skalpell. Das liegt zum einen am niedrigen Schwerpunkt, weil sich die Italiener Nebensächlichkeiten wie die erhöhte Bodenfreiheit genauso verkniffen haben wie Offroad-Progamme. Es liegt an der feinfühligen und trotzdem bestimmten Lenkung vorn und dem dezenten Einschlag hinten. Und es liegt vor allem an den neuen Aktivdämpfern, die sich elektrisch viele hundertmal pro Sekunde auf die Fahrbahn einstellen und die Karosserie eisern im Lot halten, egal wie ungestüm das Vollblut durch die Kurven galoppiert. Ach wenn der Purosangue doch nur ein SUV wäre, dann gäbe es dafür den ersten Platz in Fahrdynamik. 

Verpackt ist das Ganze in ein Design, das leidenschaftlicher kaum sein könnte. Denn auch wenn er der Purosangue höher ist als jeder andere Ferrari, geht er in seiner Liga noch als Flachmann durch. Selbst wenn das hinten etwas Platz kostet, ist die Haube länger als üblich. Und obwohl er eine ausgefeilte Aerodynamik hat, spart er sich alberne Flügel und andere Fisimatenten aus dem Windkanal. Schade nur, dass der Purosangue kein SUV ist. Sonst wäre er nämlich das schönste SUV der Welt.

Noch bedauerlicher ist allerdings, dass die Designer zwar Meister der Eleganz sind, bei den Lehrstunden in Ergonomie aber offenbar geschwänzt haben. Denn das Bediensystem des Purosangue ist so vertrackt und versteckt, dass es einem die Freude am Fahren ganz schön vermiesen kann. Ja, sie wollten neben dem eigenen Bildschirm für den Beifahrer nicht noch einen großen Touchscreen in der Mitte. Viel Platz für Schalter und Taster hatten sie auch nicht. Und weil das SUV ja lieber ein Sportwagen sein will, sind auch die eigentlichen Instrumente eher klein. Doch dafür bündeln sie nun so viele Funktionen auf den vielen Ebenen des Lenkrads, dass es dafür sogar wie beim Smartphone eine Tastensperre braucht. Eine Hand voll Schalter sind sogar auf der Rückseite versteckt, und das Menü ist so verschachtelt, dass die Mechaniker beim Koppeln des Handys helfen müssen – dabei ist man ohne Google-Karten planlos im Purosangue und findet damit auch nur dann ans Ziel, wenn die auf einem iPhone laufen. Denn für Android gibt’s bislang noch keine Integration. Fünfer, setzen! Dagegen ist selbst das aktuelle Bediensystem bei VW eine Glanzleistung, dabei war das bislang das schlechteste am Markt. 

Während der Fahrer hin- und hergerissen ist zwischen der Faszination der Fahrdynamik und dem Frust über die Friemelei am Lenkrad, haben auch die Insassen gemischte Gefühle. Einerseits gibt es neben dem Rolls-Royce Cullinan kein anderes – scusi, amici – SUV, das den Auftritt der Hinterbänkler derart inszeniert wie der Purosangue mit seinen gegen die Fahrtrichtung angeschlagenen Fondtüren, die auf Knopfdruck elektrisch öffnen. Und natürlich gibt es keinen anderen Ferrari, in den man so bequem einsteigen und dann auf thronsesselgleichen Einzelsitzen derart feudal sitzen kann. Doch andererseits geht es im Fond für ein Auto von knapp fünf Metern Länge und mehr als drei Metern Radstand erschreckend knapp zu. Und auch der Kofferraum zeugt davon, dass die Ferraristi noch ein bisschen fremdeln mit dem Alltagsnutzen: Ja, es gibt eine elektrische Hecklappe und sogar einen Karbonträger für Ski, Boards und Bikes. Und zum ersten Mal in einem Ferrari kann man die Rücksitze flach legen. Doch wer den ansonsten 473 Liter großen Laderaum erweitern will, muss erst die Trennwand ausbauen und mühsam unter dem doppelten Boden verstauen – und ruiniert sich dabei erst die Fingernägel und danch mit jedem Koffer die feinen Bezüge auf der Rückseite der Lehnen. Es sein denn, er bestellt vorher noch eine eigens geschneiderte Schutzmatte, und kann wahrscheinlich froh sein, wenn der Preis nur vierstellig ist. Wie gut, dass der Purosangue kein SUV ist, sonst gäbe es in der Alltagswertung allenfalls ein Ausreichend. Doch als Sportwagen verdient er sich eine Zwei mit Sternchen. 

Vier Türen und ein hüftfreundlicher Einstieg, eine halbwegs bequeme Rückbank sowie ein Kofferraum mit umklappbarer Rücklehne und elektrischer Klappe – zwar verlangt Ferrari mit dem Purosangue der Vorstellungskraft der Stammkundschaft einiges ab. Und natürlich deren Portemonnaie. Doch erstens fangen die Italiener ihre Fans mit spektakulären Fahrleistungen und atemberaubender Fahrdynamik wieder ein. Und zweitens wird ihnen der größte Schock erst einmal erspart. Auch wenn es opportun wäre, in die Zeit passen würde und manchen Kunden sicher ein aufrichtiges Anliegen ist, verlieren sie bei Ferrari zur möglichen Elektrifizierung ihres SUV ebenfalls noch kein Wort. Auch in dieser Hinsicht sind sie offenbar viel zu elitär, eitel oder eingefahren, um sich einem augenscheinlichen Trend zu beugen.

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