Die Rennstrecke von Estoril! Der magische Boden, die heilige Erde, auf der Niki Lauda seinen letzten WM-Titel gewann, auf der Ayrton Senna seinen ersten GP gewann. Und auf der ich erstmals den neuen Honda Civic Type R 2023 fuhr.
von Kurt Molzer
Sie fragten mich, ob ich nach Estoril wolle, auf die Rennstrecke, Testfahrten mit dem brandneuen Honda Civic Type R stünden dort auf dem Programm, nächste Woche ginge der Flieger, Wien-Zürich-Lissabon, kein anderer habe Zeit. Ein heiliger Schauer durchströmte mich – Estoril! Wenngleich mir natürlich völlig klar war, dass sie nur billigen Ersatz brauchten, einen Lückenbüßer, sagte ich sofort: „Bucht mich.“
Estoril bedeutet mir viel, sehr viel. Da wäre zunächst die unvergessene Fahrt des Nikolaus Lauda im McLaren am 21. Oktober 1984. Das Rennen seines Lebens, wie er es selbst nannte. Von Startplatz elf fährt er weg. Wird Zweiter und holt mit einem halben Punkt Vorsprung vor Alain Prost seinen dritten WM-Titel. Welch göttlicher Thriller! Ich krieg heute noch Herzpumpern davon, und das Geschrei von dem Prüller hallt auf ewig in meinem Hirnkastl, wie schön.
Ein Jahr darauf die Geburtsstunde meiner zweiten Gottheit: Ayrton „The Magic“ Senna. Im strömenden Regen zieht er Kreise um seine Gegner und gewinnt auf Lotus sein erstes F1-Rennen. Vier Jahre vergehen. Dann triumphiert unser Gerhard Berger an der Atlantikküste, im Ferrari. Und schließlich mein ganz persönliches, unglaubliches Estoril-Erlebnis, auch schon wieder 23 Jahre her.
Ich war mit zwei Freunden in einem Leihwagen aus Lissabon hergekommen. Der Circuito do Estoril lag damals brach, Boxen und Tribünen bröckelten vor sich hin. Wir konnten ungehindert auf das Gelände. Kein Mensch zu sehen. Im Fahrerlager musste man nur ein Absperrgitter zur Seite schieben – schon gelangte man auf die Piste! Wir hatten gerade die vierte Runde abgespult – unser Auto war so ein kleiner magersüchtiger Franzose und ich dachte noch hinterm Lenkrad: Jetzt dauert’s nimmer lang und die Bremsen sind total im Arsch –, als wir plötzlich Blaulicht sahen! Sie rasten uns auf der langen Start-Ziel-Gerade entgegen, ihre Sirene heulte wie eine liebeskranke Iberische Wölfin. Wir sprachen kein Portugiesisch, aber irgendwie verstanden wir ziemlich schnell, was die Polizisten meinten: Haut sofort ab, wenn ihr die nächsten 24 Stunden nicht in einem ehemaligen Folterkeller der Salazar-Diktatur schmoren wollt! Mein Gott, Estoril, meine Wallfahrt, ich komme! Und die Vorfreude auf den Type R war nicht minder groß.
Ein Vierteljahrhundert gibt es den fernöstlichen Feger bereits. Sechste Generation. Von Anbeginn war er der Streitwagen der jungen Krieger. Aber um sich ihren Traum zu erfüllen, mussten sie durch tiefe Täler. Sie aßen oft nur eine warme Mahlzeit pro Woche, und sie trugen ihre Schuhe so lange, bis im Sommer die Hirschkäfer durch die löchrigen Sohlen krabbelten und gegen Ende des Winters das Salz in den Nagelbetten ihrer Zehen brannte, und ihre Frauen wollten dieses Elend nicht mehr länger mitansehen und verließen sie und warfen sich in die Arme eines Märchenprinzen im froschgrünen Carrera. Aber irgendwann hatten die jungen Krieger genug gedarbt und so viel auf der hohen Kante (und den Rest von der Bank und vielleicht einer Erbtante aus Kentucky zugesteckt bekommen), dass sie zum Honda-Händler ihres Vertrauens gehen und den Type R bestellen konnten.
Bald schon zogen sie in die Schlacht, und weil ihnen so viel Schmachvolles widerfahren war, machten sie keine Gefangenen und kurzen Prozess mit ihren größten Feinden, GTI-lern oder Focus ST-lern, und nahmen die Weiber von denen und standen prächtig da wie nie. Nur ein einziges Mal drohte echte Gefahr, noch gar nicht lange her, und zwar von einer kleinen Bestie namens Toyota GR Yaris. Da horchten sie auf und wetzten ihre Messer extra-scharf. Aber ihre Spähtrupps gaben rasch beruhigende Kunde und Entwarnung vom Hockenheimring: Der Type R war dort auf die Runde eine Sekunde schneller. Und da sprechen wir erst vom Vorgänger des aktuellen Modells.
Der Type R, der in Estoril für mich reserviert war, hatte die Farbe Rot. Aber in den wollte ich nicht einsteigen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wurde bockig: „Ein Ferrari hat rot zu sein. Zur Not gelb. Ein Honda Civic Type R aber hat weiß zu sein. Immer. Das muss ich hier ja wohl niemandem erklären. Mit dem Roten fahr ich nicht, basta.“ Die Honda-Leute schmunzelten wissend. Als die Japaner in den 1960er Jahren mit einem eigenen Werksteam in die F1 einstiegen, waren ihre Autos weiß. Den ersten Sieg fuhr der in Hollywood geborene Richie Ginther 1965 beim Grand Prix von Mexiko ein. Weil ich Richie Ginther sein wollte und keinen Millimeter nachgab und hier echt niemand Lust auf einen Eklat hatte, bekam ich einen Weißen. Und den betrachten wir jetzt in aller Ruhe.
Er blinzelt herausfordernd aus schmalen Scheinwerferaugen wie Charles Bronson in „Spiel mir das Lied vom Tod“, hat einen Entlüftungsschlitz in der Motorhaube, geschwollene Backen, einen Heckflügel und drei Auspuffendrohre wie der Ferrari F40. Klare Ansagen, das „R“ am Heck steht ja nicht umsonst für Racing. Und doch – kaum zu glauben – wirkt er im Vergleich zum Alten geradezu staatsbürgerlich. Der kam martialischer daher, an dem waren mehr Luftleitelemente dran, er hatte auch mehr Ecken und Kanten und Öffnungen und einen größeren Heckflügel, auf dem du das 7-Gang-Menü vom „Steirereck“ anrichten konntest. Als ob sich ein Tourenwagen in den Straßenverehr verirrt hätte. Jetzt also ein kleiner Schritt in Richtung Assimilation – und preislich ein großer nach oben.
Knapp 60 000 Euro kostet der Neue. Es ist schlicht ein Wahnsinn, wie teuer die Autos inzwischen geworden sind. Das großgeschriebene ABER folgt auf dem Fuß: Dieser Type R ist eine Sensation und geht ab wie die böse Sau! Rundenrekord für Fronttriebler in Suzuka! Doch der Reihe nach. Vorher muss der Autor noch die Pitlane entlangmarschieren, in die Knie gehen und andächtig den Asphalt küssen. Ein paar Leute beobachten ihn dabei, unter ihnen der höfliche und perfekt Deutsch sprechende Herr Yamamoto, Honda-Technikberater. Der Mann wundert sich nicht schlecht und fragt einen anderen Journalisten: „Was macht er da?“ – „Na ja, er hält sich vielleicht für die Reinkarnation von Papst Johannes Paul II.“, bekam er als Antwort.
Hinein in den Heißsporn – und das bedeutete: hinunter. Die Sitzposition ist tiefer als im bisherigen Type R, wie sich das eben gehört in einem Sportler. Und der Seitenhalt ist bis zu den Schultern hinauf so bombenfest, dass ein Blinder denken könnte, er hockt im 911er. Mit meinen minimalen Kinderhänden umklammerte ich sodann dieses maximal griffige Alcantara-Lenkrad und durchfuhr in meinem minimalen Geist schon die ersten maximalen Kurven, während dieser maximal coole Sturzhelm auf meinem minimalen Schrumpfschädel etwas hin und her rutschte. Aber sonst, dachte ich, passt hier einfach alles von der ersten Sekunde an. Ich ließ meine Füße über die rutschfesten, gelochten Alu-Pedale gleiten und den Blick zum silbernen Schaltknüppel wandern.
Jawohl, Freunde, ein Schaltknauf für die sechs Gänge des manuellen Getriebes! Wissen wir denn vor lauter automatischer Doppelkupplungsgetriebegehirnwäsche überhaupt noch, wie das geht? Oder geriet es längst schon in Vergessenheit wie der Geruch von altbewährtem „Tiroler Nussöl“ auf heißer Haut im Krapfenwaldl Anfang August?
Neben mir saß jetzt der Andi, nicht irgendein Andi, sondern der Aigner Andi aus der Steiermark und seines Zeichens Rallye-Weltmeister 2008 in der Production-Wertung (P-WRC). Sieht mit Brille und Seitenscheitel aus wie ein jüngerer Professor der Montanuniversität Leoben. Nichts als Tarnung, ein ganz brutales Vollgastier ist der Kerl, so schaut’s aus. Der Andi wird hier in seiner Funktion als Instruktor aufpassen, dass ich den Honda nicht aufs Dach lege. „Gemmas au“, meinte der Co-Pilot. Startknopf drücken. Auskuppeln. Erster Gang. Gas. Einkuppeln. Geht ja noch. Der 2-Liter-4-Zylinder-Turbo brüllt naturgemäß nicht, auch mit 329 PS nicht (plus neun gegenüber dem Vorgänger). Er brummt sonor, bringt dich in 5,4 Sekunden auf 100 und schiebt an bis 275 km/h. Wir fuhren im „+R“-Modus, will heißen: härteres Fahrwerk, straffere Lenkung, schnellere Gasannahme. Der „Comfort“-Modus dient nur einem Zweck, nämlich der behutsamen Beförderung der Ex-Braut eines GTI-lers oder Focus ST-lers während der neun Monate, in welchen sie ein Kind vom Type R-Krieger erwartet. Der „Sport“-Modus liegt irgendwo zwischen Racetrack und Geburtsklinik.
Raus aus der Boxengasse und Vollgas. Dank Sperrdifferenzial nahezu allradmäßige Traktion, fantastisch, da zieht und zerrt nix an der Vorderachse. Es geht in einem Zug hoch bis auf 6 500 Umdrehungen. Leuchtdioden im digitalen Cockpitdisplay zeigen, wie im Rennwagen, den perfekten Zeitpunkt zum Hochschalten an. Die Schaltwege sind extrem kurz, ratz-fatz hast du die Gänge drin. Beim Runterschalten gibt die Motorelektronik Zwischengas, man befindet sich somit immer im optimalen Drehzahlbereich. Das Einlenken – ein Traum. Präziser hat man das in der Kompaktklasse noch nicht erlebt. Keine Verwässerung durch zu viel Servounterstützung. Die Straße kommuniziert quasi direkt mit den Nervensträngen deiner Hände. Jetzt durch die Kurve – das reinste Happening. Hier spielt viel zusammen: Diffusor und Heckflügel sorgen für Abtrieb, der im Vergleich zum Vorgänger längere Radstand und eine deutlich breitere Spur für verblüffende Stabilität, und die 265er von Michelin halten unerschütterlich zu dir. Nur ganz blöd solltest du ihnen auch nicht kommen, zu starkes Einlenken wird mit Untersteuern bestraft.
Ich hörte nun das Vollgastier neben mir sprechen: „Waßt äh, die nächste Rechts do vuan gäht voi, brauchst di nix scheißn.“ – „Puh, echt?“ – „Kloa, Oaschbockn zaum und duach.“ Na, wenn’s der Weltmeister sagt. Also: Luft anhalten (das hat er zwar nicht gesagt) und – huiuiui! Da trug es uns weit nach außen. Aber es ging tatsächlich. Später durch die enge Schikane. Ich schaltete in den zweiten Gang. „Gäht mitn Drittn“, sagte Andi, „der Motor hot so vü Kroft von unten.“ Stimmt. Das maximale Drehmoment von 420 Nm steht schon bei 2 200 U/min bereit – dritter Gang goldrichtig.
Hinein in die langgezogene „Parabolica Ayrton Senna“ und volle Wäsche vorbei an Start-und-Ziel. So jagte eine Runde die nächste. Eine halbe Stunde waren wir draußen. Nur zwei cooldown laps zwischendurch. Und die Bremsen bissen zu wie am Anfang. Gleich nach mir fuhr dann noch der Ladislav von dem tschechischen Automagazin, und nach dem Ladislav kam sein Kollege Frantisek aus der Slowakei an die Reihe, und beide hatten sie noch die volle Bremskraft, nicht die geringsten Anzeichen von thermischem Rubbeln (oder Heißrubbeln, wie wir Prolos sagen). Wie gibt’s das? Antwort: Überarbeitete Bremsleitungen und ein neuer Hauptbremszylinder lassen die Temperaturen nur moderat ansteigen. Andis lapidarer Kommentar dazu: „Oafoch spitzenmäßig.“
Im Flieger zurück nach Wien fielen mir die Worte ein, die kürzlich jemand über mich gesagt hatte. Ich sei nicht mehr der Alte, ein müder Bleifußkrieger in der Auslaufrunde. Hm, ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich nehme diese Diffamierung jetzt gern so hin. Denn sonst müsste ich morgen zum Honda-Händler meines Vertrauens und den Civic Type R bestellen. Ich müsste mir dann aber auch eine ständige Bleibe in unmittelbarer Nähe der Nürburgring Nordschleife besorgen, der einzigen Rennstrecke weit und breit, auf der du jeden Tag so viele Runden drehen kannst, wie du willst. Mir bliebe gar keine andere Wahl.