Für die Einen ist er nur das „Dreckige Dutzend“, doch für die Anderen ist der Zwölfzylinder das Leidenschaftlichste, was ein Motorenbauer überhaupt erschaffen kann. Und niemand hat dafür mehr Verständnis als Lamborghini. Schließlich ist wahrscheinlich nicht einmal Nachbar und Erzrivale Ferrari derart eng mit dem V12-Motor verbunden wie die italienische VW-Tochter, die diesem Prinzip mit Autos wie dem Countach, dem Diablo oder dem Murcielago ein soundgewaltiges Denkmal gesetzt hat. Und jetzt gerade geht wieder eine Ära zu Ende und in Sant’Agata werden die letzten Exemplare des Aventador ausgeliefert. Doch statt danach Schluss zu machen mit dem Zwölfender und sich dem Geist der Zeit zu beugen, schallt ein trotziges „jetzt erst recht“ aus den Werkshallen in der Emilia Romagna. Denn nur weil alle Welt plötzlich unter Strom steht, muss der Stier noch lange nicht seine Hörne strecken.
Statt deshalb allein auf Elektro zu setzen, entwickeln die Italiener den V12 kurzerhand weiter, kombinieren ihn mit gleich drei E-Motoren und einem – wenn auch nur winzig kleinen – Puffer-Akku und stoßen mit ihrem ersten Plug-In-Hybrid in neue Dimensionen der Fahrdynamik vor. Wenn Ende des Jahres die ersten Exemplare des Revuelto in den Handel kommen, wird die Lücke zu Bugatti deshalb wieder etwa kleiner. Das gilt für die vereinte Leistung von irrwitzigen 1.015 PS und auch für den Preis, den man vorsichtig an der Grenze zur halben Millionen taxieren kann.
Dafür gibt es dann allerdings ein Antriebspaket, wie es die Welt jenseits der Alpen noch nicht gesehen hat: Allein der längs montierte, aber für den PHEV-Einsatz um 180 Grad gedrehte 6,5 Liter große V12-Motor leistet 825 PS und dreht leidenschaftlich wie kein anderes Triebwerk auf mehr als 9.000 Touren. Und dazu kommen vorne zwei und hinten eine E-Maschine von jeweils maximal 110 kW, so dass am Ende erstmals bei Lamborghini ein vierstelliger PS-Wert im Fahrzeugschein steht. Und auch wenn jede E-Maschine zusätzliches Gewicht bringt, der im Mitteltunnel integrierte Akku trotz seiner mickrigen 3,8 kWh noch einmal ein paar Pfund auf die Waage wuchtet und es obendrein noch ein – ebenfalls neu für den V12 aus Sant’Agata – Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe von knapp 200 Kilo gibt, hat kein anderer Sportwagen im Zeichen des Stiers so ein imposantes Leistungsgewicht: Weil der Antrieb Power hat ohne Ende und weil das neu konstruierte Karbon-Chassis mit den Pfunden geizt wie nie zuvor kommen am Ende auf jedes PS nur 1,75 Kilo, jubeln die Entwickler und leiten daraus Fahrleistungen ab, die Petrolheads die Sinne rauben werden: Wenn sich die 725 Nm des V12 mit den jeweils 350 Nm der E-Maschinen zusammentun, kennt der Lamborghini kein Halten mehr: Von 0 auf 100 in 2,5 und auf 200 in weniger als sieben Sekunden und bei Vollgas mehr als 350 km/h – da ist Pulsrasen garantiert. Und wenn das nicht reicht, hält der Revuelto noch ein neues Erlebnis bereit – zumindest ein paar Kilometer weit kann der Donnerkeil auch flüsterleise und elektrisch Fahren, bevor der mit maximal 7 kW zu bestromende Akku für eine halbe Stunde ans Netz oder binnen sechs Minuten vom überdrehten V12 geladen werden muss. Und ja, zumindest auf dem Prüfstand verbessert sich auch die Effizienz und der Verbrauch sinkt gegenüber dem Aventador Ultimae um 30 Prozent auf „nur noch“ 18 Liter.
Zur lustvollen Leistungsorgie verspricht Lamborghini eine neue Dimension an Fahrdynamik, die auf einem ausgefeilten Torque Vectoring fußt: Weil die Motoren einzeln angesteuert werden können, gibt es nicht nur Allradantrieb selbst im E-Betrieb, sondern mehr als ein Dutzend Fahrprogramme, in denen der Flachmann Stufe für Stufe mehr zur Furie wird, die Elektronik immer mehr Leistung freischaltet und dem Fahrer Meter für Meter mehr Leine lässt.
Genau wie der Antrieb den Spagat steht zwischen traditionellen Werten und neuer Technik, so schlägt dabei auch das Design eine Brücke über mehrere Generationen. Denn selbst wenn jedes Blech- oder besser Karbonteil neu gezeichnet ist und man mehr denn je den Einfluss von Luft- und Raumfahrt erkennt, sticht je nach Perspektive immer auch ein bisschen Countach oder Murcielago mit heraus. Und die Scherentüren gibt es natürlich auch wieder. Schließlich gibt neben dem Diktat von Keil und Kante noch ein weiteres Element, das alle V12-Modelle der Italiener eint: Sie sind Blech gewordenes Adrenalin – egal, wie viel Vitamin E dabei im Spiel ist.
Am stärksten sind der Bruch und weitesten der Sprung dabei im Innenraum, wo Lamborghini aufs heftigste mit der Generation Smartphone flirtet. Dass der Fahrer nur noch digitale Instrumente sieht und sich am Steuer wie in einer zum Leben erwachten Playstation währt, mag dabei noch in Ordnung gehen. Doch ein eigenes Display für den Beifahrer braucht es in so einem Auto nun wirklich nicht. Denn alles, was der Co-Pilot dort zu sehen bekommen könnte, würde ihn nur über Gebühr beunruhigen. Und spätestens wenn der Fahrer das Potential des Revuelto voll ausreizt, hat der Sozius ohnehin längst die Augen zugekniffen.
Stärker und schneller denn je, agiler und einfacher zu handlen und dabei zumindest kurzzeitig auch elektrisch unterwegs – so wird der Revuelto für die Italiener zu einem wichtigen Meilenstein in der 60-jährigen Geschichte der Marke und einem Etappenziel auf dem Weg der Elektrifizierung. „Wir wollten die Grenzen sprengen und haben mit der Kombination aus V12 und Hybrid-Technik die perfekte Balance zwischen der von unseren Kunden erwarteten Emotion und dem nötigen Abbau der Emissionen gefunden“, schwärmt Firmenchef Stephan Winkelmann und will diese Balance so schnell auch nicht gefährden. Denn während der Hybrid-Ansatz so oder so ähnlich auch seinen Weg in den Huracán-Nachfolger und den Urus finden soll, lässt das erste rein elektrische Auto aus Sant’Agata wohl noch bis 2027 auf sich warten.