Börsianer bekommen bei dieser Firma Schnappatmung und klimabewegte Vielverdiener geraten vor lauter Vorfreude außer Puste, weil das Rasen ohne Reue weitergehen darf. Doch für Elon Musk wird die Luft mit Lucid wieder etwas dünner. Denn nachdem mittlerweile schon die vermeintlichen Dinosaurier aus der alten Autowelt mit elektrischen Neuheiten wie dem Mercedes EQS, dem BMW iX und dem Duo Porsche Taycan/Audi e-tron GT am Thron des Tesla-Chefs rütteln, schwingt sich jetzt der erste Newcomer zu einem ernsthaften Konkurrenten auf und bringt gegen das Model S den Lucid Air in Stellung. Eleganter, auf jeden Fall aber frischer gezeichnet als das Model S und seines fast 120 kWh großen Akkupakets, seines cw-Werts von 0,21 und seines effizienten Antriebs sei dank, kommt er in den USA auf eine Normreichweite von 520 Meilen oder fast 840 Kilometern und wird so mit weitem Abstand der beste Langstreckenläufer in dieser Liga.
Genau wie der Tesla in den USA entwickelt und auch gebaut, wird jenseits des Atlantiks bereits seit dem Herbst ausgeliefert und soll im zweiten Halbjahr vom ersten europäischen Showroom in München aus auch diesseits des Atlantiks an den Start gehen. Einen Preis gibt es noch nicht, doch soviel ist schon sicher: Der Lucid Air wird kein billiges Vergnügen und dürfte angesichts von US-Preisen zwischen 79.000 und 169.000 Dollar bei uns ähnlich wie etwa der Mercedes EQS allenfalls knapp unter 100.000 Euro starten. Und auch das wird nur mit dem Basismodell klappen, das frühestens Mitte 2023 in den Handel kommt.
Tesla-Herausforderer
Trotzdem könnten die Chancen des Tesla-Herausforderers kaum besser sein. Denn wohl keiner kennt das Model S so gut wie Lucid-Chef Peter Rawlinson. Schließlich hat der in seinem letzten Leben selbst bei Tesla gearbeitet und für Elon Musk die Entwicklung der ersten eigenen Baureihe geleitet. Kein Wunder also, dass der Air wie eine Kopie des Model S daher kommt – nur ohne Kompromisse und statt dessen mit vielen kleinen wie großen Verbesserungen.
Zum Beispiel im Innenraum: Wo der Tesla fast nackt daher kommt, mit seinem großen Touchscreen als einzigem Bedienelement, hat Lucid beim Air die bessere, vielleicht in dieser Klasse sogar die beste Balance aus alter und neuer Welt gefunden: Es gibt vornehme Oberflächen, edle Materialen und sogar noch ein paar klassische Schalter, etwa für Lautstärke und Lüftung – und trotzdem schwebt hinter dem Lenkrad eine schlanke Kinoleinwand, während vor der Mittelkonsole das unvermeidliche Tablet thront.
Dazu bietet der Lucid jede Menge Platz: Zum gute 400 Liter großen Kofferraum kommt nochmal halb so viel im Frunk. Und obwohl nur etwa so groß wie eine E-Klasse, sitzen Hinterbänkler im Lucid bei knapp drei Metern Radstand fast so gut wie in einer S-Klasse. Auch der EQS wirkt dagegen eher knapp und für die Fondpassagiere bei Audi oder Porsche bleibt einem im Lucid nicht viel mehr als Mitleid. Verstärkt wird der luftige Raumeindruck im Air noch von der konkurrenzlosen Frontscheibe, die bis weit hinter den Fahrersitz ins Dach reicht und so ganz neue Ausblicke eröffnet.
Power ohne Ende
Fahrdynamisch liegt der Lucid Air am oberen Ende seiner Klasse, kein Wunder bei irrwitzigen 1.111 PS und mehr als 1.000 Nm für die Dream Edition, mit der die Amerikaner den Anfang machen. Aber seine Lorbeeren sammelt der Lucid nicht allein mit der brachialen Beschleunigung im Sprint-Mode, für den die Entwickler – wir sind schließlich in Amerika – eigens einen Warnhinweis programmiert haben. Zwar bleibt einem bei weniger als 3,0 Sekunden von 0 auf 100 km/h schon mal kurz die Puste weg. Und die wegen der Reifen auf 270 km/h limitierte Höchstgeschwindig-keit ist auch nicht schlecht. Doch mehr noch beeindruckt der Punch, den der Lucid jenseits der Richtgeschwindig-keit entwickelt: Wo es bei anderen Stromern so langsam zäh wird, zieht der Air locker durch und kommt nie aus der Puste. So wird Überholen selbst auf der Autobahn zum Kinderspiel.
Nicht minder beeindruckend ist sein lockeres Handling. Obwohl der Wagen knapp fünf Meter lang ist und mehr als 2,5 Tonnen schwer und sich dabei weder den Luxus einer Luftfederung leistet, noch eine Hinterachslenkung nutzt, nimmt er die Byways in den Hügeln hinter Hollywood genauso vergnüglich, wie die Highways unten an der Küste: Enge Kurven, verwinkelte Canyons oder steile Pässe machen mit der großen Limousine überraschend viel Laune – da merkt man, dass Peter Rawlinson auch mal ein paar Jahre bei Lotus gearbeitet hat.
Anders als die deutschen Dinosaurier und genau wie Tesla lässt Lucid die Zulieferer weitgehend außen vor: Schlüsselkomponenten wie Akkus und Motoren werden deshalb nicht nur selbst entwickelt, sondern auch produziert. Die Batterieblöcke, von denen es im Auto je nach Konfiguration 18 oder 22 gibt, haben die Amerikaner bereits seit Jahren an den Formel E geliefert und so hinlänglich testen können. Und der Motor, den die Ingenieure auf maximal 650 PS tunen können, ist mit seinen, zusammen mit der Leistungselektronik, gerade mal 74 Kilo einer der leichtesten und obendrein einer der kleinsten in der ganzen Liga.
Schnell nachgeladen
Auf der üblichen Skateboard-Architektur kombiniert Lucid aus diesen Komponenten, nach der passend zur offiziellen Reichweite auf 520 Exemplare limitierten Dream-Edition, erst einmal drei Versionen: Das in den USA 79.000 Dollar teure Basismodell „Pure“ mit rund 480 PS-Heckantrieb und guten 600 Kilometern Reichweite, den „Touring“ mit zwei Motoren, 620 PS und 650 Kilometern Reichweite und den Grand Touring, der als künftiges Topmodell für 139.000 Dollar auf etwa 800 PS und rund 830 Kilometer kommen soll.
Die Lader, die bidirektional ausgelegt sind und mit dem Auto so auch das Haus speisen können, laden mit bestenfalls 350 kW und machen den Air zum schnellsten Sauger an der Steckdose: Unter optimalen Umständen fließt binnen 20 Minuten der Strom für fast 500 Kilometer. Doch oft ausprobieren müssen die Kunden das, angesichts der riesigen Reichweite, wohl kaum: Von Los Angeles nach San Francisco kommt der Air mit einer Akkuladung, und bei uns sollten Hamburg-München mit ein bisschen Zurückhaltung möglich sein.
Zwar ist Rawlinson mit seiner Company schon weiter als so viele andere Start-Ups und hat seine Fabrik in Arizona schon mal zum Laufen gebracht. Doch jetzt muss er beweisen, dass er mehr als die 520 Autos seiner Dream-Edition bauen und die angeblich über 10.000 Vorbestellungen abarbeiten kann. Und auch der Sprung über den Atlantik will erst einmal bewältigt werden, von der Erweiterung der Modellpalette und dem Start des als Projekt Gravity bereits angekündigten SUV ganz zu schweigen. Doch selbst wenn er damit länger brauchen sollte als geplant, weht mit dem Lucid Air ein frischer Wind durchs elektrische Oberhaus – und bläst Elon Musk mitten ins Gesicht.