Gedeckte Farben, betagte Kunden und den Stern immer groß auf der Haube. Zwar haben sie Generation für Generation eine dicke Staubschicht abgetragen, doch gilt keine Baureihe bei Mercedes als klassischer und keine Kundenschicht ist konservativer als bei der E-Klasse. Aber jetzt müssen die Herren und Damen Anzugträger ganz stark sein und das Heer der solventen Senioren ganz stark sein. Denn mit einem Elektroschock beamen die Schwaben die Business-Klasse in die Zukunft und stellen der E-Klasse ab Mai zu Startpreisen knapp unter 70.000 Euro (D) den EQE zur Seite. Eng verwandt mit dem EQS und genauso futuristisch gezeichnet, aber 30 Zentimeter kürzer und rund 30.000 Euro günstiger, soll er die neue Akku-Architektur aus Stuttgart in die Breite tragen und die zugleich geschickt jene Lücke füllen, die bei Audi bis zum Debüt des elektrischen A6 und bei BMW vor der Premiere des i5 klafft.
Während der EQS eine echte S-Klasse für die Generation E sein will und nach den gleichen Werten strebt, hatte Baureihenleiter Christoph Starzynski für den EQE ein etwas progressiveres Profil im Sinn. „Wir wollten das engagiertere, handlichere Auto bauen und dem Fahrer entsprechend mehr Spaß bieten.“ Der EQE fährt deshalb nicht nur schneidiger als der EQS, sondern sticht auch die E-Klasse aus. Und bis auf die Höchstgeschwindigkeit, die wie bei allen elektrischen Mercedes-Modellen schon bei 210 statt der üblichen 250 km/h gekappt wird, klappt das ganz gut.
Auf der Langstrecke wunderbar entspannend, weil der EQE leise und lässig über die linke Spur fliegt wie jede große Limousine und dabei selbst dem Wind kaum ein Geräusch entlockt, zeigt der elektrifizierte Business-Jet auf den Landstraßen der zweiten und dritten Ordnung ein anderes, neues Gesicht: Die Stahlfeder bindet in fester an die Fahrbahn, die Hinterachslenkung bringt ihn leichter um die Kurve und mit flinken Händen führt man den EQE eng an der Ideallinie. Und jeder kurze Kickdown stellt den Vielfahrern im Firmenauftrag ein bisschen mehr Temperament für den täglichen Termindruck in Aussicht.
Während der Fahrer ein Auto erlebt, das sich eher nach C-Klasse anfühlt als nach E-Klasse, sehen vor allem die Hinterbänkler den EQE mit einer ganz anderen Brille: Weil der Vorbau kürzer und der Radstand größer ist als bei der konventionellen E-Klasse und der Innenraum so um insgesamt acht Zentimeter wächst, genießen sie im Fond deutlich mehr Freiheiten und wähnen sich in der bis dato den Chinesen vorbehaltenen Langversion – selbst wenn sich der EQE Extravaganzen wie Massagesitze oder ein aufwändiges Rearseat-Infotainment-System verkneift. Aber das gibt es ja im EQS fürs Erste auch nicht. Was dem EQE zum großen Bruder neben rund zehn Zentimetern Radstand und etwa 30 Zentimetern Länge noch fehlt, das ist der riesige Laderaum. Nicht im Dach, sondern unter der Scheibe ist hier diesmal die Haube angeschlagen, so dass man mit Koffern deutlich besser fährt als mit Kisten und sich auf 430 Liter beschränken muss.
Ein bisschen Bescheidenheit ist auch beim Antrieb angebracht. Zumindest im Vergleich mit dem EQS. Weil die Plattform EVA2 beim kürzeren Radstand im 4,95 Meter langen EQE nur den kleineren der beiden Akkus fasst, gibt es statt 108 kWh nutzbarer Kapazität nur 90 kWh. Und weil zugleich der cW-Wert des EQE etwas schlechter ist und das Gewicht nicht sehr viel besser, schrumpft die Reichweite auf 660 WLTP-Kilometer. Das sind zwar 120 weniger als im EQS, aber noch immer deutlich mehr als es die vielen elektrischen SUV bieten, mit denen die Business-Klasse aktuell unterwegs ist. Außerdem wird ja auch schnell wieder geladen: Dank einer Ladeleistung von 170 kW soll in 15 Minuten im besten Fall der Strom für 250 Kilometer fließen.
Auch beim Antrieb steigt der EQE eine halbe Stufe tiefer ein und startet als EQE 350 als Hecktriebler mit 292 PS. Dabei soll es aber nicht bleiben. Sondern verglichen mit dem EQS plant Mercedes für den EQE eine deutlich weiter aufgefächerte Motorpalette. So soll später ein schwächerer EQE 300 den Preis drücken und die Reichweite erhöhen, kündigt Starzynski an. Außerdem gibt es einen EQE 500 mit je einem Motor pro Achse und einer Systemleistung von 408 PS sowie gleich zwei AMG-Modelle: Beim Werkstuner haben die Kunden die Wahl zwischen dem EQE 43 mit 476 PS oder dem EQE 53, der 626 PS leistet und kurzfristig sogar 687 PS bereitstellt.
Zwar will Mercedes mit dem EQE vor allem Firmen- und Vielfahrer ansprechen und so möglichst viele traditionelle Käufer der E-Klasse auf die Electric Avenue locken. Doch von Staub und Spießertum des Vorgängers wollen die Schwaben nichts mehr wissen. Nicht nur den Kombi haben sie deshalb ersatzlos gestrichen, sondern auch eine der bekanntesten E-Klassen: Ein Taxi wird es vom EQE nicht mehr geben.