Mercedes S-Klasse: Kehrtwende mit Flaggschiff
Von wegen Smoking. In ein paar Wochen mag die neue S-Klasse alle anderen Mercedes-Modelle überstrahlen und versuchen, auch Audi A8 und BMW Siebener mit ihrem Glanz in den Schatten zu stellen. Nicht umsonst hat Designchef Gorden Wagener den Grill noch stolzer und größer gezeichnet und den Scheinwerfern einen strengeren Blick mit gegegeb. Doch noch ist das kommende Flaggschiff der Sternenflotte vergleichsweise schmucklos unterwegs und trägt statt des feinen Zweirns den Blaumann der PS-Branche. Denn die repräsentative Front, das stolze Format und das mächtige Geck sind noch mit Tarnfolie kaschiert. Schließlich dauert es noch einen Monat bis zu Weltpremiere der neuen S-Klasse, die – mal wieder – genau zur rechten Zeit kommt.
Von Thomas Geiger
Denn gebeutelt von dramatischen Gewinneinbrüchen und der Corona-Krise steckt Daimler genau wie zum Debüt der letzten S-Klasse tief im Schlamassel und die neue Luxuslimousine muss zum Rettungswagen werden, der den Karren aus dem Deck zieht. Schließlich ist sie nicht nur weltweit der Leitstern in der Luxusliga und das technologische Flaggschiff des Konzerns, sondern wirft auch mehr Rendite ab als jedes andere Auto.
Der Mann, der diesen Rettungswagen steuert, ist Jürgen Weissinger. Er ist Daimler-Urgestein und Chefingenieur der Baureihe W223 und hat ein paar Wochen vor Produktionsstart noch reichlich zu tun. „Denn mit all ihren Komfort-, Sicherheits- und Assistenz-, Infotainment und Antriebssystemen ist die S-Klasse mit Abstand das komplexeste Auto in unserem Portfolio.“ Dabei war sein Briefing eigentlich ganz einfach: Das beste Auto der Welt noch besser zu machen.
Für die Passagiere bedeutet das unter anderem mehr Komfort durch Massagesitze auch im Fond und beheizte Nackenkissen in der ersten Reihe, eine serienmäßige Luftfederung und die optionale Active Body-Control aus dem GLE, die in der S-Klasse noch feinfühliger reagiert und noch mehr kann. So hebt sie den Wagen vor einem Crash zum Beispiel im acht Zentimeter an und leitet den Aufprall so in die besonders stabile Unterboden-Struktur. Zusammen mit bis zu 16 Airbags soll das die S-Klasse auch wieder zum sichersten Auto der Welt machen.
Dazu gibt es ein neuartiges Infotainment-System mit einer Weiterentwicklung von MB UX: Das macht unter anderem knapp 30 Schalter und Taster überflüssig. Stattdessen erkennt das Auto viele Funktionen allein durch Blick- und Gestensteuerung und weiß deshalb zum Beispiel von selbst, ob der rechte oder der linke Außenspiegel verstellt werden soll. Außerdem warnt die S-Klasse bereits vor Verkehr von hinten, wenn man nur die Hand in Richtung Türgriff führt.
Während die Zahl der Schalter dramatisch abnimmt, wachsen dagegen die Display-Flächen. So nimmt nun ähnlich wie etwa bei Tesla ein riesiger, senkrechter Bildschirm die gesamte Mittelkonsole ein. Im Fond gibt es für jeden Passagier einen eigenen Touchscreen und ein herausnehmbares Tablet als Fernsteuerung. Und der Fahrer schaut in das erste digitale Cockpit mit 3D-Effekt, in dem Informationen wie die Kulissen auf einer Theaterbühne gestaffelt werden. Wo die Augen drei Dimensionen genießen, gibt’s für die Ohren sogar vier: Denn das Soundsystem korreliert nun auch mit den Massagepolstern und lässt einen die Bässe buchstäblich fühlen.
Als weitere „Augenweide“ statten die Schwaben die S-Klasse auf Wunsch mit der nächsten Generation ihrer Head-Up-Displays aus. Das hat nicht nur eine deutlich größere Projektion, die weiter entfernt näher über der Straße schwebt. Sondern es bietet auch eine dynamische Darstellung für Augmented Reality-Inhalte: Abbiegehinweise zum Beispiel fliegen deshalb förmlich durchs Bild und weisen dem Fahrer so auch grafisch den Weg.
Zwar wird bei der S-Klasse geklotzt und nicht gekleckert. Doch zumindest in einer Disziplin musste auch Weissinger sparen: Beim Verbrauch. Obwohl das Auto größer geworden ist und mehr Technik drinsteckt, hat die S-Klasse deshalb wieder ein wenig abgespeckt und auch beim cw-Wert noch einmal einen Sprung gemacht. Außerdem gibt es für die Sechs- und die Achtzylinder-Motoren immer Mild-Hybrid-Technik und wer den Sechszylinder-Plug-In-Hybrid bestellt, kann mit bis zu 100 Kilometern elektrischer Reichweite kalkulieren, verspricht der Chefingenieur. Nur eine rein elektrische Variante wird es nicht geben, weil parallel ja gerade der EQS entwickelt wird, der ein halbes Jahr nach der S-Klasse Tesla & Co in die Schranken weisen will. Dafür hat Weissinger noch ein bisschen was für leistungshungrige und statusbewusste Kunden in petto: Natürlich wird es auch wieder einen S 63 von AMG geben und auch der bereits totgesagte Zwölfzylinder lebt im S 600 weiter.
Apropos Modellplanung: Wie bislang baut Mercedes die S-Klasse in drei Radständen. Die Standardversion mit einem Achsabstand von 3,10 und einer Länge von 5,15 Metern vor allem für die Europäer, die um rund zehn Zentimeter gestreckte Langversion für Chinesen und Amerikaner und später auch wieder eine XXL-Version mit Maybach-Logo. Nur Cabrio und Coupé wird es nach aktuellem Stand künftig nicht mehr geben – zumindest nicht in der S-Klasse. Doch Weissinger verantwortet auch die Entwicklung des SL und wird spätestens mit dessen Nachfolger dafür Sorge tragen, dass sich die vornehmen Genießer dem Stern nicht von der Stange gehen.
Egal in welcher S-Klasse die Kunden unterwegs sind: Während sie innen in mehr Platz schwelgen denn je zuvor, fühlt sich das Auto sehr viel handlicher an, sagt Weissinger und zirkelt seinen Prototypen durchs Parkhaus als wäre er zum Smart geschrumpft. Denn als letzter Luxushersteller baut jetzt auch Mercedes eine Allradlenkung ein und ist dabei sehr viel konsequenter als die voreilige Konkurrenz: Während Audi und BMW ihre Hinterräder um ein, zwei Grad einschlagen, erlaubt Weissinger der S-Klasse bis zu zehn Winkelgrade und fährt so Kreise um die Konkurrenten. Der Radius für eine Kehre schrumpft um rund zwei Meter und selbst die Langversion der Limousine wendet in weniger als elf Metern, erzählt Weissinger stolz, während er einer A-Klasse im Parkhaus vor dem Werk Sindelfingen noch schnell einen Parkplatz wegschnappt. Hinterbänkler müssen sich an flottere Fahrten im Stadtgewühl gewöhnen, doch Chauffeure werden Weissinger auf ewig dankbar sein. Zwar ist die Hinterradlenkung nur eine von vielen Optionen der neuen S-Klasse, doch hat sie auch symbolischen Charakter. Denn ob und wie Daimler die Kurve kriegt, das muss sich erst noch zeigen. Aber für das neue Flaggschiff ist eine Kehrtwende jetzt kein Problem mehr.