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Mercedes Vision EQXX: Weniger ist schwer

Das Imperium schlägt zurück: Schon mit dem EQS hat sich Mercedes mit reichlich Verspätung wieder auf Augenhöhe mit Tesla & Co gekämpft. Doch wenn die Schwaben jetzt pünktlich zur CES in Las Vegas den Mercedes Vision EQXX enthüllen, will der Erfinder des Autos auch die Deutungshoheit über dessen Zukunft zurückgewinnen. Denn mit einer Reichweite von mehr als 1.000 Kilometer, der größten Effizienz und dem kleinsten cW-Wert aller Elektroautos legt Stuttgart die Latte höher als je zuvor: „Der Mercedes EQXX zeigt, wie wir uns die Zukunft des Elektroautos vorstellen“, sagt Konzernchef Ola Källenius über den Silberling aus dem Windkanal, der auf eine Rekordwert von 0,18 heruntergerechnet wurde.

Dafür haben Designchef Gorden Wagener und der oberste Aerodynamiker Teddy Woll so lange miteinander gerungen, bis ein extrem flacher und schnittiger Viertürer von rund fünf Metern im Windkanal stand, der trotzdem überraschend gegenwärtig und alltagstauglich aussieht und sich experimentelle Eigenheiten wie verkleidete Radkästen oder digitale Außenspiegel spart. Stattdessen gibt eine extrem glatte Front mit einer dichten Kühlerjalousie, die nur dann Luft durch den Bug und die Nüstern oben auf der Haube strömen lässt, wenn es wirklich unvermeidbar ist, eine hinten kaum sichtbar eingezogene Spur, nahezu geschlossene Räder mit Reifen ohne Beschriftung auf der Flanke und ein markantes Heck mit einer weit nach hinten gerückten, messerscharfen Abrisskante sowie  – und das ist der einzige versteckte Clou – einem ausfahrbaren Bodenspoiler, der das so genannte Totwassergebiet hinter dem Wagen noch einmal verkürzt und so den Energieaufwand für den Vorwärtsdrang minimiert. 

Mercedes Vision EQXX im Windkanal

Zwar hat Mercedes reichlich Erfahrung mit Stromlinien-Autos und cW-Weltmeistern von Rudolf Carraciolas W125 aus dem Jahr 1938 bis hin zum EQS, der als schnittigstes Serienauto am Markt gilt. Doch anders als bei früheren Silberpfeilen, verfolgt Mercedes damit diesmal ein anderes Ziel: Ging es beim W125 oder beim C111 um maximale Eile und Rekordgeschwindigkeiten, zielen die Schwaben diesmal auf höchste Effizienz und eine rekordverdächtige Reichweite – und limitieren den ersten Silberpfeil für die Generation E deshalb auf 140 km/h, die er dafür aber auch auf Dauer halten kann. 

Denn nur mit maximaler Effizienz ergibt die Rekord-Reichweite für die Schwaben einen Sinn: Weit zu fahren sei an sich schließlich keine Kunst, räumt Klaus Millerferli ein, der den Aufbau des Prototypen verantwortet: Entweder man schleicht, oder man montiert wie Nio, Tesla oder Lucid einfach riesige Batterien. Weil beides für die Schwaben nicht in Frage kam, haben sie stattdessen die Effizienz erhöht und so den Verbrauch gedrückt. Mit weniger als zehn Kilowattstunden pro 100 Kilometer ist er nicht einmal mehr halb so groß wie beim EQS und überträgt so die Idee vom Einliter-Auto auf die Electric Avenue.

Dafür haben Millerferli und seine Kollegen alle Register gezogen: Die neue Aerodynamik als größer Baustein, dazu ein Antrieb, bei dem zwischen der Batterie, dem 150 kW starken E-Motor und den Rädern nur noch fünf Prozent Energie verloren gehen, und ein Gewicht, von dem andere E-Entwickler nur träumen können. Mit 1.750 Kilo ist der EQXX noch 20 Prozent leichter als ein EQA, obwohl er den kleinen Stromer aus Stuttgart um mindestens einen halben Meter überragt.

Mercedes Vision EQXX Interieur

Den Löwenanteil an dieser Diät leistet die Batterie, die mit den Teams der Formel 1 und der Formel E gemeinsam entwickelt wurde. Mit neuen Zellen, optimierter Chemie, auf 900 Volt angehobener Betriebsspannung und einem Gehäuse aus Karbon statt Aluminium, hat sie zwar mit rund 100 kWh die gleiche Kapazität wie im EQS und 50 Prozent mehr Power als im EQA. Aber sie ist nur noch halb so groß und zwei Drittel so schwer wie im elektrischen Flaggschiff und passt damit problemlos auf, in die so genannte Modulare Mercedes Architektur (MMA), auf der sie in Sindelfingen die kommenden E-Fahrzeuge für die Kompakt- und die Mittelklasse entwickeln. Nicht umsonst misst der Radstand der Studie nur 2,80 Meter und ist damit ähnlich kurz wie beim aktuellen EQA.

Diese Nähe zur Serie ist eine weitere Botschaft, die Mercedes dem EQXX mit auf den Weg gibt. Denn anders als vergleichsweise abgehobene CES-Studien, wie etwa das Roboterauto Mercedes F015, hat der EQXX reichlich Bodenhaftung und Realitätsbezug: „Das Technologieprogramm, das hinter dem Vision EQXX steht, wird zukünftige Modelle und Fahrzeugfunktionen von Mercedes-Benz neu definieren und ermöglichen“, sagt Entwicklungsvorstand Markus Schäfer und spricht von einem „mutigen und dennoch absolut realistischen Schritt“ in die Zukunft der Elektrofahrzeug-Technologie. Viele der innovativen Entwicklungen aus dem EQXX würden bereits in die Produktion integriert.

Wie fest der EQXX im Hier und Heute steht, sieht man auch am Interieur – selbst wenn vor allem das Infotainment buchstäblich „next level“ ist. Denn gemessen an dem quer durchs Cockpit gespannten Display wirkt der eben noch als Hightech gefeierte Hyperscreen des EQS schon wieder wie ein Röhrenfernseher und die Grafiken muten fast schon museal an, so faszinierend ist das neue Feuerwerk der Pixel. Dass solch ein riesiges Display und die Prozessoren dahinter für gewöhnlich viel Energie brauchen, ficht die Entwickler nicht an. Denn erstens bauen sie natürlich besonders sparsame Chips ein, zweitens blenden sie unbenutzte Pixel permanent aus und drittens zapfen sie für das Infotainment genau wie für den Rest des Bordnetzes die Sonne an: Solarzellen auf dem Dach liefern genügend Strom für alle Nebenverbraucher, die sonst am 12 Volt-Akku hängen, sagt Projektleiter Millerferli. 

Mercedes Vision EQXX Heck

Weil bei diesem Forschungsprojekt wirklich alle Disziplinen mitgearbeitet haben, geht der EQXX auch bei Konstruktion und Produktion neue Wege: Einzelne Bauteile wurden deshalb wie die Monster in Computerspielen mit bionischen Programmen berechnet und erinnern wie schon vor fast 20 Jahren bei dem vom Kofferfisch inspirierten Bionic Car eher an gewachsene Knochenstrukturen als an mechanische Komponenten. Diese Verfahren sparen Zeit und vor allem Gewicht, weil die Materialstärke immer optimal an den Lastverlauf angepasst ist. Auch das ist ein Grund, weshalb der EQXX weniger wiegt als eine konventionelle C-Klasse

Ebenfalls nachhaltig und neuartig gleichermaßen ist die Materialauswahl, die neben recycelten Plastik auch auf eine neue Generation nachwachsender Rohstoffe setzt. Denn die Schwaben nutzen nicht nur Naturfasern wie Bambus, sondern züchten im Labor sogar spezielle Pilze, deren Gewebe bereits nach zwei Wochen Wachstum zu Sitzbezügen verarbeitet werden kann.

Seine Premiere feiert der EQXX zwar rein digital – und trägt dort offiziell auch noch den Beinamen Vision. Doch wer die Studie genau anschaut, entdeckt im Scheibenrahmen sogar eine Fahrgestellnummer, und eine Straßenzulassung hat der Silberpfeil der Neuzeit auch. Denn bald soll die Vision Wirklichkeit werden und noch im Frühjahr auf einer Langstreckenfahrt durch Europa beweisen, dass die Praxis hält, was die Theorie verspricht. 

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