Mit der X-Klasse wagt sich die Marke mit dem Stern in eher unbekanntes Gebiet vor und versucht Luxus und Nützlichkeit zu kombinieren.
Text: Thomas Geiger
Die Staubschleppe ist viele Meter lang, vom Bodenblech hört man das Poltern der aufgewirbelten Schottersteine, aus den Pfützen spritzt der Matsch bis hoch ans Fenster und die Schlaglöcher sind so tief, dass ein Smart fast darin versinken würde. Doch der Entwicklungsfahrer bleibt auf dem Gas und pflügt wie Indiana Jones durch die Pampa. Schließlich sitzt er nicht am Steuer irgendeines neuen Mercedes, sondern bittet – parallel zur Weltpremiere – zur ersten Mitfahrt in der neuen X-Klasse, mit der die Schwaben einen schwierigen Spagat wagen. Denn als erster Pick-Up eines europäischen Premium-Herstellers soll der Pritschenwagen so etwas wie den Schaffer im Smoking geben und deshalb hart zu sich selbst aber sanft zu den Passagieren sein.
Auch wenn in den Reden zur Premiere der X-Klasse immer wieder das Wort „premium“ fällt und Mercedes die X-Klasse mit reichlich Lack und Leder dekoriert, um den Grundpreis von 37 294 Euro zu rechtfertigen, will der Pritschenwagen trotzdem ein robuster Praktiker sein. Nicht umsonst baut er wie alle Konkurrenten auf einem schier unverwüstlichen Leiterrahmen auf, kann auf seiner Ladefläche locker eine Euro-Palette schultern, bietet eine Nutzlast von mehr als einer Tonne, kann bis zu 3,5 Tonnen an den Haken nehmen und kommt dank hoher Bodenfreiheit und solidem Allradantrieb im Gelände fast so weit wie eine G-Klasse, versprechen die Entwickler und treten bei ihren Demofahrten umso fester aufs Gas.
So ganz neu ist X-Klasse dabei natürlich nicht. Erstens, weil sich das Serienmodell überraschend treu und detailverliebt an die Studien aus dem letzten Herbst hält und zweitens, weil unter dem Blech der Navarra von Kooperationspartner Nissan steckt. Doch Mercedes hat sich viel Arbeit gemacht, die Verwandtschaftsbeziehungen zu verwischen. Das gilt für das Karosseriedesign des ausschließlich mit Doppelkabine und fünf Sitzen lieferbaren Bullen von Benz mit seinem riesigen Grill, dem breiten Bug und der kantigen Pritsche genauso wie die das Cockpit. Denn mit Instrumenten aus den aktuellen Pkw-Baureihen, dem großen, freistehenden Navi-Bildschirm über der Mittelkonsole und dem Touchcontroller zwischen den Sitzen haben es die Designer geschafft, den Nissan auf nobel zu trimmen.
Aber so ganz lupenrein ist die die Mercedes-Atmosphäre trotzdem nicht. Dafür erinnern am Ende noch zu viele Schalter an den nüchternen Vetter von Nissan. Der zurück auf den Mitteltunnel gewanderte Schaltknauf für die Automatik wirkt für so ein wuchtiges Auto zu fragil und so vornehm die vielen Dekor- und Designvarianten und die gehobenen der drei Ausstattungsstufen für ein Nutzfahrzeug auch sein mögen, klingt es aus dem Mund eines Mercedes-Designers ein wenig befremdlich, wenn er etwa bei den Bezügen des Armaturenbretts von einer „Ledernachbildung“ schwärmt und zärtlich über eine Kunststofflandschaft streicht.
Ja, für einen Pick-Up sieht das alles ungeheuer vornehm und nobel aus. Doch an die Noblesse einer V-Klasse kommt der Pritschenwagen nicht heran und verglichen mit GLE & Co ist die X-Klasse eben doch ein nüchternes Nutzfahrzeug. Das gilt nicht nur fürs Ambiente und die Ausstattung, die mit Life-Traffic für die Navigation, Verkehrszeichen-Erkennung, Brems- oder Spurhalteassistent und LED-Scheinwerfern die Zwickmühle der unterschiedlichen Ansprüche noch einmal unterstreicht, weil sie bei den Nutzfahrzeugen neue Maßstäbe setzt und bei den Pkw-Kunden trotzdem einige Wünsche wie eine automatische Abstandregelung oder klimatisierte Sitze unerfüllt lässt. Das wird auch beim Antrieb deutlich. Denn unter dem Blech sind sich X-Klasse und Navarra zumindest für den Start erst einmal ziemlich ähnlich: Es gibt den schwäbischen Schlepper genau wie den Nissan zunächst nur mit 2,3 Liter großen Vierzylinder-Dieseln mit 163 oder 190 PS, die grundsätzlich die Hinterachse antreiben und immer mit zuschaltbarem Allradantrieb sowie einer Geländeuntersetzung und Hinterachssperre bestellt werden können. Erst im nächsten Sommer folgt dann als erster und vorerst auch einziger Mercedes-Motor ein V6-Diesel mit drei Litern Hubraum, 258 PS und 550 Nm, der denn serienmäßig mit permanentem Allradantrieb und siebenstufiger Automatik ausgestattet ist und sogar unterschiedliche Fahrprofile bekommt.
In der Theorie mag das Setup verdächtig nach Nissan klingen, doch in der Praxis spürt man sehr wohl einen Unterschied. Denn die Entwickler haben in den letzten zwei Jahren nicht umsonst ein Marterprogramm in allen Winkeln der Welt abgespult. Auf Schotterpisten und in Eiswüsten, auf Geröllhalden und Dschungelpfaden haben sie den Laster auf Luxus getrimmt und ihm die Manieren eines Mercedes beigebracht. Er federt deshalb komfortabler als die Konkurrenten, selbst auf der rabiatesten Rüttelstrecke hört man kein Knistern und kein Klappern und wenn der Testfahrer mit über 150 Sachen in eine scharfe Kurve fährt, verzieht er dabei keine Miene. Das möchte man ihm in einem Nissan oder einem Toyota Hilux lieber nicht nachmachen.
Zwar weiß Mercedes sehr wohl um das Risiko bei der Portfolio-Erweiterung. Denn für den von Renault Kangoo angeleiteten Citan haben die Schwaben ordentlich Kritik bekommen. Und der Blick nach Wolfsburg schürt die Skepsis, nachdem sich der VW Amarok zumindest in Zentraleuropa lange nicht so breitgemacht hat, wie von den Niedersachsen erhofft. Doch fußen die Schwaben ihre Zuversicht nicht zuletzt auf ihre guten Erfahrungen mit dem SUV: Denn als Mercedes dort vor über 20 Jahren mit der M-Klasse eingestiegen ist, hat sich das Segment ebenfalls gerade gedreht und aus den Matschmobilen sind Modemodelle geworden, die man aus der Stadt heute nicht mehr wegdenken kann. Gut möglich, dass sich diese Geschichte jetzt noch einmal wiederholt und die X-Klasse demnächst auch dort jede Menge Staub aufwirbelt, wo die Pisten längst asphaltiert sind.