Rollt ein chinesischer Engländer auf den Markt … oder war es ein englischer Chinese? Egal, die Rede ist jedenfalls vom MG Marvel R, dem neuesten Streich der unter fernöstlicher Regie völlig umgemodelten Traditionsmarke aus Britannien. Die will mit ihrem dritten Auto nun vollends auf Angriff umschalten.
Beim Plug-in-Hybrid EHS und dem vollelektrischen ZS lag der Fokus noch ganz darauf, zwei Tiefpreiskönige zu erschaffen, die die Konkurrenz allein durch ihren gewaltigen Preisvorteil in Erklärungsnot bringen und trotzdem solide Gesamtpakete darstellen. Der ebenfalls komplett elektrisch angetriebene Marvel R kommt nicht nur mit einem netteren Namen, sondern auch mit gehobenen Ansprüchen an. Denn anstatt sich design- und featuretechnisch „nur“ auf grundsolide Basics zu verlassen, wird MG jetzt deutlich mutiger. Das merkt man allein schon am Auftritt, der nicht mehr vorne einem Mazda und hinten einem BMW ähnelt, sondern ganz eigenständig geraten ist. Superschlanke Leuchten an Front und Heck sorgen für eine äußerst schnittige Designsprache und die SUV-Silhouette ist mindestens gefällig, dank eines dynamischen Heckverlaufs und netten Extras wie den versenkbaren Türgriffen je nach Geschmack auch sehr fesch. Ganz klar, dieses Auto will ein Botschafter für MG sein.
Doch die Promotion beschränkt sich nicht nur auf das Äußere, sondern auch die inneren Werte können sich sehen (und fühlen) lassen. Das Cockpit wird dominiert von einem gigantischen Touchscreen à la Tesla, das Armaturenbrett ist elegant geschwungen und an den richtigen Stellen mit Ziernähten und Metallleisten geschmückt. Nicht protzig, sondern einfach schmuck. Doch an den Feinheiten merkt man dem Marvel R an, dass auch er irgendwie auf seinen Preis kommen muss – dazu später mehr. Das Infotainment ist zwar verlässlich und bietet alles, was man sich erwartet und mehr, ist aber beileibe nicht das allerschnellste. Und es ist zwar genial, dass man jederzeit zwischen sieben Kameraperspektiven herumswitchen kann, dafür erinnern die Bilder mit gefühlt 240 Pixeln und 10 Bildern pro Sekunde eher an Videos, die man seinerzeit mit dem Klapphandy afgenommen hat. Gleiches gilt für Knöpfe und Schalter: Sie tun ihren Job, aber das ganz große Bediengaudium kommt bei den Plastiktasten am Lenkrad und der ein wenig wackligen Automatikwählscheibe auch wieder nicht auf.
Setzt sich dieser Trend der Zwiespältigkeit auch beim Fahren fort? Kurzantwort: ja. Denn der MG Marvel R punktet zwar mit den Elektroauto-eigenen Tugenden, kann aber nicht über die eine oder andere Kleinigkeit hinwegtäuschen. Getestet haben wir den Performance AWD, sprich: die Topversion. Bedeutet 288 PS, 665 Nm Drehmoment, Allradantrieb, zwei Gänge (wie sonst etwa beim Porsche Taycan), 200 km/h Spitze und eine Sprintzeit von 4,9 Sekunden. Klingt verdammt knackig, ist es auch. Ohne Blick auf den Typenschein würde man die 288 Pferde eher noch nach oben korrigieren, denn der Antritt aus dem Stand ist wahrlich gewaltig. 1,8 Sekunden auf 50 km/h drücken einen schon ordentlich in die bequemen Sitze. Auch in der Kurve gibt sich der Marvel R recht gediegen, kein Grund zur Beschwerde für dieses Segment. Aber Windgeräusche dringen auf der Autobahn doch ziemlich lautstark ins Interieur und kurze Stöße spürt man nicht nur, sondern sie werden auch von einem lautstarken Rumms begleitet.
Während wir die versprochene Reichweite von 370 Kilometern (der 180 PS starke Hecktriebler bietet 402) zwar nicht selbst ausreizen konnten, zeigt uns das Navi einen Aktionsradius (sehr cooles Feature übrigens) von Wien bis knapp nach Salzburg an. Alles andere als genial also, und wieder so ein Wermutstropfen.
Den macht der eigentlich ganz ordentliche Preis leider auch nicht ganz wett. Denn während die 52.490 Euro für den Marvel R Performance AWD allein schon aufgrund der Tatsache, dass die Topversion praktisch komplett vollausgestattet daherkommt, ziemlich sexy klingen, leidet der gute erste Eindruck dann doch im Reichweitenkonkurrenzvergleich. Ein Skoda Enyaq iV 80 etwa packt bei knapp 5.000 Euro weniger über 150 Kilometer mehr auf die Straße – kann allerdings in puncto Ausstattung bei weitem nicht mithalten, keine Frage. Das Problem beim Marvel R ist lediglich: Wenn man Allradantrieb und Power möchte, dann bekommt man schlicht und ergreifend nicht mehr Reichweite, MG hat keine extragroße Batterie in der Hinterhand.
Rein gemessen an Ambiente und Inhalten darf man den MG zurecht als Tiefpreisflieger bezeichnen. Doch dafür muss er die ein oder andere Einsparung hinnehmen, die der Fahrer eben doch zu spüren bekommt. Und bei den Elektroautos ist das Thema Reichweite halt nach wie vor ein essenzielles. Fakt ist: Der Marvel R Performance AWD macht durchaus Spaß, schmeichelt seinen Insassen mit modernem Komfort und Extras wie der Bose-Anlage samt neun Boxen, kann sich aber nicht so ganz in den Premium-Olymp aufschwingen. Dennoch bringt er Charakter mit und hat sicherlich das Zeug dazu, zahlreiche Käufer zurecht von sich zu überzeugen. Ein gigantischer Sprung von EHS und ZS ist er außerdem und lässt damit große Hoffnungen an MG wachsen. Er mag zwar kein vollkommenes Wunder sein, aber man muss sich auch keineswegs über ihn wundern. Und wenn, dann doch im positiven Sinne.