Die Revolution auf dem Elektromarkt
Wir fahren den Nio ES8
Von Thomas Geiger
Dann wird es noch einmal spannend im Markt der stromernden SUV. Denn so gewöhnlich, ja fast ein bisschen grobschlächtig, der gut fünf Meter lange Geländewagen mit dem Walfisch-Gesicht von außen aussieht, so unkonventionell ist sein Innenleben: Nicht nur, dass er neben dem winzigen Display hinter dem Lenkrad einen riesigen Touchscreen in der Mittelkonsole hat und dass einem aus dem Armaturenbrett ein kleiner Kamerad anblinzelt, der als „Nomi“ dem digitalen Sprach- und Bediensystem im Stil von Siri & Co buchstäblich ein Gesicht gibt. Sondern über die Spielereien für die Digital Natives hinaus gibt es ein paar echt praktische Details: So ist die seitlich offene Mittelkonsole groß genug, dass darin die Handtasche oder die High Heels der Beifahrerin verschwinden. Statt wie so viele gelangweilte Passagiere im chinesischen Dauerstau die Füße unter die Frontscheibe legen zu müssen, kann man sie im Nio bequem auf einem Ottomanen im Fußraum abstellen. Wie sonst nur im Flugzeug in der Business Class lässt sich der Beifahrersitz zur Liege umbauen. Und wer dem Nachwuchs auf dem Rücksitz den Schnuller reichen will, der muss sich nicht mühsam verrenken, sondern kann seinen Sitz mit einem Knopfdruck entriegeln und dann so weit nach hinten fahren, bis der Stuhl am Rücksitz anschlägt. Und das ist eine hübsche Strecke. Denn bei 3,01 Metern Radstand, einem flachen Unterboden und dem üblichen Skateboard-Layout der Stromer bietet der ES8 innen deutlich mehr Platz als konventionelle Geländewagen. Das merkt man in der zweiten und erst recht in der serienmäßigen dritten Reihe, wo man nur über die leidgeplagten Passagiere dritter Klasse in einem Audi Q7 oder Mercedes GLS lachen kann.
Angetrieben von zwei E-Maschinen mit zusammen 480 kW und 840 Nm bietet der ES8 Fahrleistungen auf Augenhöhe mit den europäischen Elektroautos aus der Oberklasse. Von 0 auf 100 schafft er es in 4,4 Sekunden und erst bei 200 km/h drehen ihm die Entwickler den Saft ab. Dass das Fahrwerk betont komfortabel, die Lenkung eher soft und das ESP sehr defensiv abgestimmt sind, liegt an den Gewohnheiten in China. Doch davon unbenommen wirkt der Nio reifer und solider als viele andere Akku-Autos aus Asien – vielleicht auch, weil er mehrheitlich in München entwickelt und abgestimmt wurde und weil zum Beispiel die serienmäßige Luftfederung von Continental stammt.
Während das alles noch vergleichbar ist mit Model X, e-tron & Co, macht Nio beim Akku einen gravierenden Unterschied. Der ist zwar mit 70 kWh und einer NEFZ-Reichweite von 355 Kilometern allenfalls unterer Durchschnitt. Doch wo er sonst fest verbaut ist, kann man ihn bei den Chinesen immer und überall wechseln. So wie andere zur Waschanlage, fahren ES8-Kunden deshalb zur Tauschstation, wo ihr Auto automatisch aufgebockt wird, ein Roboter von unten zehn Schrauben löst, den leeren Akku heraus nimmt und gegen einen von fünf vollen aus dem Lager tauscht. Das Ganze dauert keine fünf Minuten und soll mittelfristig dank eines Autopiloten sogar funktionieren, während der Fahrer beim Arbeiten oder Essen ist.
Bislang gibt es zwar erst 18 solcher Wechselstationen entlang der Autobahn von Peking nach Macao. Doch erstens kann der ES8 auch an der Steckdose und jeder Ladesäule Strom zapfen, zweitens wollen die Chinesen bis 2020 immerhin 1.000 Wechselstationen installiert haben und drittens bietet sie noch einen weiteren Service, den kein anderer Hersteller hat: den Charging Van. So, wie andere sich eine Pizza ordern, kann man damit über die Nio-App einen Kleintransporter bestellen, der den Laderaum voller Batterien hat und aus denen binnen zehn Minuten Strom für weitere 100 Kilometer spendet.
Analysten wie Automobilwirtschaftler Stefan Bratzel von der Hochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach loben den Absatz mit den Wechselakkus als schnellste und komfortabelste Variante, einem Elektroauto in kurzer Zeit zu einer große Reichweite zu verhelfen. Außerdem können Nio-Kunden so leichter vom Fortschritt bei der Batterietechnik profitieren und regelmäßig auf einfache Updates und Upgrades hoffen. Doch Bratzel warnt auch vor den großen Investitionen, die mit den Wechselstationen und den zusätzlichen Akkupaketen einhergehen. „Und es braucht dann eine kritische Masse von Fahrzeugen, die diese Dienstleistungen zu moderaten Kosen in Anspruch nehmen“, sagt der Professor. Wenn es nach Nio geht, soll es jedenfalls daran nicht liegen: Gerade eben haben die Chinesen unter dem Kürzel ES6 ihr zweites Modell vorgestellt.