Je größer die Familie, desto stärker müssen sich die Kinder strecken, damit sie genügend Aufmerksamkeit bekommen. Niemand weiß das besser als das Management bei Opel, das nach dem Abschied aus dem GM-Imperium gerade erst seinen Platz im PSA-Konzern gefunden hat und sich nun auch noch neben Fiat & Co in der Stellantis-Gruppe behaupten muss. Mit gewöhnlichen Gebrauchsautos ist es da nicht getan und jeder Schuss muss sitzen – erst recht, wenn es sich um den neuen Astra handelt. Schließlich repräsentiert er nicht nur die Opel-Baureihe mit der längsten Geschichte, die zusammen mit Kadett & Co. elf Generationen zurückreicht. Sondern er steht auch beim Absatz an der Spitze der Statistik.
Deshalb lassen die Hessen keine Gelegenheit zur Selbstfindung aus und betonen wie ein Mantra die deutsche Identität, die aus dem Astra spricht: „Designed, entwickelt und gebaut in Rüsselsheim,“ gibt Projektleiter Rainer Bachen den Lokalpatrioten und ist so stolz, dass er schon jetzt zu einer Ausfahrt im Prototypen bittet, obwohl der Astra erst im August enthüllt, ab Herbst verkauft und ab Januar 2022 ausgeliefert wird.
Als Kind des neuen Konzerns basiert der Astra – ähnlich wie der neue Peugeot 308 und der DS4 – auf der dritten Generation der Konzernplattform EMP2, die für Stellantis so wichtig ist wie der MQB für die VW-Gruppe. Etwa zur Hälfte mit neuen Komponenten bestückt, soll diese Evolutionsstufe vor allem mehr Platz auf gleicher Fläche bieten und die neuesten Assistenzsysteme. Nicht umsonst gibt es jetzt sechs Kameras und alle Sensoren an Bord, die es zum teilautonomen Fahren auf der Autobahn braucht. Und weil Opel diesmal von Anfang an Teil der Familie war, seien auch die DNA der Marke und deren spezifischen Anforderungen fest in der Konstruktion verankert.
Das Ergebnis ist ein Auto, das selbst dann schon eine eigenständige Identität beweist, wenn die Karosserie noch mit grellgelber Camouflage beklebt und das Cockpit mit schwarzen Gummimatten verhängt ist. Denn was man schon jetzt spüren kann, das ist eine verbindliche Abstimmung, die Vertrauen schafft und Vergnügen macht. Egal ob flott auf einer kurvigen Landstraße oder schnell auf der Autobahn – der Astra lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und wirkt dabei spürbar engagierter als die Geschwister. Nur die Lenkung lässt noch ein wenig von der gewohnten Präzision vermissen. Aber das weiß Bachem selbst am allerbesten und verspricht an dieser Stelle Besserung: „Wir haben ja noch ein paar Monate Zeit.“
Zum typischen Opel-Gefühl gibt es natürlich auch ein typisches Opel-Gesicht, das beim Decken, Tarnen und Täuschen geschickt ausgespart wurde. Während von der kantigen Kontur und dem glatten Heck noch nicht viel zu erkennen ist, sticht der von Mokka & Co bekannte Vizor-Grill mit seiner glänzend schwarzen, weitgehend geschlossenen Kunststoffblende aus der Tarnfolie heraus. Genau die die zackigen Haken der LED-Signatur, die sich um die 84 Pixel der Hightech-Scheinwerfer legen.
Auch innen duftet es frisch nach Mokka. Denn wer kurz und heimlich die Tarnmatten lupft, der sieht das so genannte Pure Panel aus dem coolen SUV, das im Astra zu einem schwarzen Triptychon wird: Links vom Lenkrad eine glatte klavierlack-schwarze Konsole aus poliertem Glas, die nur vom Luftauslass durchbrochen ist, hinter dem Lenkrad die digitalen Instrumente und rechts davon der große Touchscreen, unter dem ein paar wenige Tasten die einfache Bedienung wichtiger Funktionen auch für Kunden sicherstellen, die nicht mit dem Smartphone groß geworden sind. Erst auf den zweiten Blick erkennt man auch ein paar wenige Gleichteile aus anderen Modellen der großen Markenfamilie: Die Schaltwippe für die Achtstufen-Autmatik zum Beispiel oder die Lenkstockhebel – aber die sind gegenüber den Opel-Originalen ein echter Gewinn.
So gerne die Opel-Mannschaft über Look und Feel ihres wichtigsten Modells spricht, streut sie zwischendurch auch mal ein paar Fakten ein. So verrät Bachen schon jetzt, dass der Astra bei unveränderter Länge von 4,37 Metern in der Breite fünf Zentimeter und im Radstand immerhin einen Zentimeter gewachsen ist, was beides vor allem die Hinterbänkler spüren. Außerdem ist er zwei Zentimeter flacher geworden. Das ist nicht nur gut für die Proportionen und den Luftwiderstand, sondern senkt obendrein den Schwerpunkt. Dazu noch die tiefere Sitzposition und die breitere Spur – schon hat der Fahrer wieder etwas mehr zu lachen. Nahezu unverändert ist mit 422 Litern das Volumen des Kofferraums. Aber immerhin gibt es jetzt einen ebenen Ladeboden, und im Innenraum haben sie endlich genügend Ablagen für all jenen Kleinkram geschaffen, für den im Vorgänger zu wenig Platz war.
Beim Antrieb halten sich die Hessen an eine bewährte, wenn auch bescheidene Auswahl: Denn es gibt den Astra zum Start lediglich mit einem 1,2 Liter großen Dreizylinder-Turbo, der 110 oder 130 Liter leistet und sich zumindest in den Protoptypen noch mit dem üblichen Schnattern lautstark in den Vordergrund spielt. Einziger Diesel ist ein 1,5-Liter mit 130 PS. Vorbei die Zeiten, in denen Opel deutlich unter 100 PS ein- und weit jenseits von 200 PS wieder ausgestiegen ist.
Während die reinen Verbrenner wenig spannend sind und Opel sich sogar mit Bick auf den ohnehin schon niedrigen CO2-Ausstoß die 48 Volt-Technik spart, wird der Plug-in-Hybrid zum Highlight des neuen Astra. Nicht nur, weil so auch der Astra erstmals an die Steckdose rollt. Sondern auch, weil Opel den Teilzeitstromer mit 180 oder gar mit 225 PS anbietet und so ein wenig GSi-Gefühl aufkommen lässt.
Dafür kombinieren sie einen 1,6-Benziner mit einen 110 PS starken E-Motor an der Vorderachse und einem 12,4 kWh großen Akku unter der Rückbank, der für rund 50 Kilometer reichen sollte. Bei der ersten Ausfahrt rollt der Astra damit still und schnell durch die Stadt und schaltet den Verbrenner erst bei einem beherzten Tritt aufs Fahrpedal oder bei Geschwindigkeiten jenseits des Landstraßentempos zu. Auf der Autobahn spürbar mehr Elan als es der Feierabendverkehr rund um Rüsselsheim bei der Jungfernfahrt im Tarnkleid zulässt. Langfristig wird es zwar auch für den Astra eine voll elektrische Variante brauchen. Doch fürs Erste muss sich Opel damit weder vor der eigenen Familie noch vor Fremdfabrikaten wie einem Golf GTE verstecken.
Zwar will Opel der deutschen Stimme in der Französisch-Italienisch-Amerikanischen Familie mit dem Astra wieder mehr Gehör verschaffen. Doch der Astra selbst wird dabei buchstäblich zum Leisetreter. Denn innen herrscht dank laminierter Front- und dickerer Seitenscheiben mehr Ruhe denn je. Und zumindest von der Plug-In-Version ist für runde 50 Kilometer auch außen nichts mehr zu hören.