2009 gründete ein 21-jähriger Kroate namens Mate Rimac ein Unternehmen. 14 Jahre später hat Rimac Automobili mit dem Nevera das beste Elektroauto der Welt auf die Straße gebracht. Diskussionen ob des Superlativs sind unangebracht.
Text: Jakob Stantejsky / Fotos: Rimac/Keno Zache
Denn wo andere Stromer sich damit rühmen, Alltagstauglichkeit oder ähnlich berauschende Eigenschaften an den Tag zu legen, stehen für den Rimac Nevera Weltrekorde an der Tagesordnung. Derzeit sind es deutlich über 20. Im Mai dieses Jahres stellte das Hypercar glatt 23 Weltrekorde an einem einzigen Tag auf. Stärkstes Elektroauto mit 1.914 PS und 2.360 Nm Drehmoment ist er sowieso, ebenso wie schnellstes mit 412 km/h Top-Speed, in 1,81 Sekunden von null auf 100 oder in 4,42 Sekunden auf 200 schafft sonst auch niemand, ebenso wenig wie null auf 400 und zurück auf null in 29,93 Sekunden. Die Liste geht noch eine ganze Weile weiter. Die beste E-Rundenzeit auf dem Nürburgring versteht sich ohnehin von selbst: 7:05,298 Minuten.
Gut, der Nevera ist also unvorstellbar schnell. Aber das war es noch nicht. Denn mit 120 kWh spielt er auch in puncto Batteriegröße in einer eigenen Liga unter allen Serien-Elektrikern. Die lädt natürlich mit bis zu 350 kW. Richtig geraten, damit ist der Kroate einsamer Spitzenreiter. Kein anderes Auto packt das derzeit. Es gibt nur drei Disziplinen, in denen man den Nevera als Nicht-Spitzenreiter akzeptieren kann: Der Transport von drei oder mehr Personen fällt dank fehlender Rückbank schwer, großes Gepäck findet ebenfalls keinen Platz und es gibt Elektroautos, die komfortabler auf der Straße liegen. Aber wen interessieren solche Nebensächlichkeiten schon?
Den Autor dieser Zeilen jedenfalls nicht, als er die Nachricht bekommt, dass er auf dem Rimac x Ionity: Nevera Roadtrip, der kreuz und quer durch Süd- und Mitteleuropa führt, die erste Etappe von Zagreb nach Döbriach in Kärnten bestreiten darf. Rund 400 Kilometer in einem über zwei Millionen schweren Hypercar, das nur 150 mal quasi in Handarbeit gebaut wird? Nur kein Druck. Warum die Ionity-Kooperation? Erstens muss man auf so einem Husarenritt ja auch mal nachladen und der Nevera will das in bester Rekord-Manier natürlich so schnell wie irgend möglich machen. Und Ionity freut sich, dass endlich ein Auto in der Praxis beweisen kann, dass ihre Ladestationen 350 kW leisten können. Außerdem nutzen die Partner die Tour de Force als Bühne für die Ankündigung, dass alle Nevera-Kunden ihren Boliden acht Jahre lang gratis an allen Ionity-Standorten füttern dürfen. Klar, ein Multimillionär hätte das Budget für Strom auch so gerade noch aufgebracht. Aber die Zusammenarbeit macht alleine schon Sinn, weil beide Brands auf ihrem Gebiet absolute Top-Performer sind.
Dem Rimac – an dieser Stelle ein kurzer Aussprache-Exkurs: Bitte „Rimats“, niemals „Rymack“ oder ähnliches – sieht man seine Sonderstellung gar nicht so sehr an. Natürlich steht da ein scharf gezeichneter Sportwagen vor seiner Heimstatt in Zagreb. Aber es gibt zahlreiche Vehikel, die deutlich dicker auftragen mit ihrem Auftritt. Beim Nevera geht es ausschließlich um Funktion, alles ist der automobilen Perfektion untergeordnet. Natürlich ist der Spoiler kein Kind von Traurigkeit. Aber im Range- oder Cruise-Modus duckt er sich fast schon schüchtern auf das Heck. Bei Sport und Track macht er schon deutlich mehr Eindruck und im Drift-Modus wirkt er fast absurd. Da steht gefühlt eine senkrechte Wand, wenn man in den Rückspiegel blickt. Auch der Diffusor, der Splitter und der Lufteinlass in der Motorhaube bewegen sich je nach Anforderung und verändern den Look des Nevera tatsächlich recht deutlich. Tatsächlich gibt es sogar am Unterboden bewegliche Aero-Elemente. Die bekommt man im Betrieb allerdings nie zu Gesicht – hoffentlich.
Lässt man sich auf erstaunlich menschenwürdige Art im Rimac Nevera nieder, umarmt einen der schnittige Sportsitz natürlich enthusiastisch. Aber es bleibt relativ kommod. Selbst bei einer längeren Autobahnetappe ist weder die Sitzposition zu steif, noch wird das Steißbein über Gebühr massiert. Je nach Fahrmodus passen sich nicht nur Antriebs- und Fahrwerkabstimmung deutlich merkbar an, sondern auch das Lenkverhalten. Leichtgängig ist das Steuer nie, aber das wäre in einem Hypercar auch reichlich lächerlich. Das Feedback von Untergrund und Grip ist immer höchst präzise. Und das, obwohl der Nevera 2.150 Kilogramm wiegt. Das weiß man aber nur nach einem Blick in die technischen Daten. Auf der Straße, selbst bei Vollgas in zackigen Kurven, würde man den Kroaten höchstens auf 1,6 oder vielleicht 1,7 Tonnen schätzen. Das gnadenlose Handling gleicht angesichts der physikalischen Grundgesetze beinahe Magie.
Einen magischen Moment für Elektro-Enthusiasten gibt es an der Ionity-Säule beim Ladestopp. Innerhalb kürzester Zeit springt die Anzeige auf 348 kW, mit denen der Strom in den Nevera gepumpt wird. Solche Zahlen kann man nur mit diesem Auto in natura beobachten. Von 23 auf die berühmten 80 Prozent geht es in einer knackigen guten Viertelstunde, komplett voll ist der Nevera nach rund 45 Minuten. Nochmal, zur Sicherheit: Hier reden wir von einem 120 kWh-Akku, nicht von handelsüblichen 70 oder 80 kWh, bei denen sich Hersteller sonst über ähnliche Zeiten schon freuen wie Schneekönige.
Während man den Sprint auf 200 km/h in Kroatien und Österreich nicht guten Gewissens ausreizen kann, versucht man sich natürlich am Vollgassprung auf Landstraßentempo. Kennen Sie das Gefühl, wenn man als Beifahrer deutlich mehr Adrenalin als nötig ausschüttet, weil sich alles doppelt so schnell anfühlt. So fühlt man sich auch im Rimac Nevera. Als Fahrer. 1,81 Sekunden in Worte zu fassen, fällt schwer. Kaum hat der rechte Fuß sich bewegt, fühlt man sich der Welt im wahrsten Sinne entrissen. So wie eine Cartoonfigur, die einen Abdruck hinterlässt, während sie selbst schon rasant enteilt. Der Tacho wird dreistellig, während man noch verzweifelt versucht, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt aber keine Atempause, sondern geht unaufhörlich weiter. Irgendwann, in Echtzeit nur knappe drei Sekunden später, hebt man den rechten Fuß und traut sich endlich wieder zu atmen. Erst jetzt bemerkt man den Klammergriff ums Lenkrad und wie man gerade eben dreingeschaut hat, möchte man eigentlich gar nicht wissen. Unterm Strich ein unvergleichliches Erlebnis zwischen Ekstase und ein wenig Angst, das man am liebsten noch zwanzig mal wiederholen möchte.
Umso mehr schmerzt es, am Abend den Schlüssel abgeben zu müssen. Lange nicht mehr hat ein Auto den automobilen Horizont des Schreibers so sehr erweitert. Vor allem ist es schier unglaublich, dass der Hersteller seit nicht einmal 15 Jahren existiert und nach einer Generalprobe mit gerade einmal 88 Exemplaren des Concept One direkt dieses Wunderwerk auf den Markt bringt. Von vorne bis hinten, außen bis innen komplett selbst hergestellt (sogar das Infotainmentsystem haben sie selbst gebastelt) und in Handarbeit zusammengesetzt bietet der Rimac Nevera unglaubliche Daten, die ihm trotzdem nicht gerecht werden. Über dieses Auto wird man noch in 50 Jahren sprechen.