Bigblock, Blattfedern und der Auspuff dick wie Kanalrohre: Kaum eine Autogattung ist so archaisch wie der Pick-Up-Truck. Und trotzdem so beliebt. Nicht umsonst hat jeder dritte Neuwagen in den USA eine Pritsche. Doch jetzt brechen die vermeintlichen Saurier unter den SUV so langsam in die Neuzeit auf – und mal wieder macht ein Newcomer den Anfang. Nur ist es diesmal ist es eben nicht Tesla. Sondern während der Cybertruck noch ein Einzelstück ist, hat stattdessen Rivian den ersten elektrischen Lademeister in Serie gebracht – und lässt damit sogar Porschefahrer vor Neid erblassen.
Gewusst hat er es schon lange: „Wenn wir es ernst meinen mit dem Abschied vom Benzin, dann müssen wir ganz dringend über einen Pick-up-Nachdenken, “ sagte Elon Musk bereits Anfang des letzten Jahrzehnts im Interview. Doch mit der Umsetzung hat sich der Tesla-Chef mal wieder ein bisschen Zeit gelassen. Denn auch wenn er gerade mal ein knappes Jahrzehnt später im November 2019 endlich seinen Cybertruck präsentiert hat, ist bis auf den persönlichen Prototypen des Multi-Milliardärs von der Zukunft des Pritschenwagens noch nicht viel zu sehen. Frühestens Anfang 2023, so die jüngste Kunde aus Kalifornien, soll es soweit sein.
Deshalb muss sich Musk jetzt die Show von einem anderen Start-Up stehlen lassen. Denn während Tesla noch plant, hat Rivian bereits mit der Produktion begonnen und schickt seit ein paar Monaten den R1T ins Rennen. Als erster elektrischer Pick-Up soll er das größte und wichtigste Segment des US-Markts in die Zukunft führen und zugleich die Elektrifizierung von der Elite in die Breite der Gesellschaft tragen. Denn in den Great Plains von Colorado, auf den Ölfeldern in Texas und bei den Rinderzüchtern in Milwaukee ist mit Model S und Model Y kein großer Staat zu machen und auch nicht mit dem Mustang Mach E.
Zwar wirkt der R1T nicht ganz so weit aus der Zukunft geholt wie der Cybertruck. Doch gemessen an den konventionellen Konkurrenten tritt der Newcomer auf, als hätten sie in Hollywood ein paar Szenen aus Star Trek mit Jurassic Park durcheinandergebracht – so cool und clean schwimmt der Rivian durch den Verkehr: Wo Ford & Co auf Chrom und Flammen setzen und den Dicken machen wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Jahren, strahlt der Rivian eine Coolness aus wie die das erste iPhone, ist rank und schlank und leistet sich als einziges Erkennungsmerkmal unverwechselbare LED-Scheinwerfer. Einen Grill gibt es dagegen gar nicht mehr, keine Trittleisten und erst recht keine Rammschutzbügel oder wuchtigen Planken an den Flanken. Sogar ein Jeep Compass sieht dagegen verwegen aus.
Auch innen lebt der Rivian-Fahrer in seiner ganz eigenen Welt und sitzt in einem coolen Studio hinter zwei Bildschirmen statt in einem Maschinenraum voller Uhren, Schaltern und Tastern – selbst wenn er dafür sogar Sitze und Spiegel am Touchscreen einstellen muss. Dazu gibt’s Platz in Hülle und Fülle und fürs Gepäck neben der Pritsche den obligatorischen Frunk im Bug. Nur dass der hier größer ist als der Kofferraum manch eines konventionellen Kombis.
Der Auftritt ist völlig unterschiedlich, aber der Anspruch ist der gleiche: Der Rivian will Arbeitstier und vor allem Abenteurer sind, der sich für nichts und niemanden zu schade ist. Nicht umsonst bewerben die Amerikaner den Pick-up als erstes elektrisches Expeditions-Mobil und nicht ohne Grund gibt es fast ausschließlich Fotos von Geländespielen mit Zelt auf der Pritsche oder einer Outdoor-Küche im so genannten Gear Tunnel – dem praktischen Schubfach zwischen der Kabine und dem Pritschenboden, wo andere Pick-ups Kardanwellen, Blattfedern oder den Tank haben. Selbst die Mitarbeiter-Portraits auf der Website sind ausschließlich auf Wanderungen oder in der Wildnis entstanden und wurden nicht am Schreibtisch geschossen.
Damit der R1T in der Wildnis mindestens so weit kommt wie die Konkurrenten aus der alten Welt, fährt er auf Wunsch natürlich auf allen Vieren, hat gleich vier unterschiedliche Offroad-Programme und eine Luftfederung, mit der ihn der Fahrer auch über große Hindernisse lupfen kann. Und statt ihn an Engstellen mühsam zu rangieren, kann man den Rivian mit seinen vier angetriebenen Rädern auf losem Grund auch wie einen Panzer auf der Stelle wenden. Selbst wenn der Fahrer sich das mit Rücksicht auf die Reifen lieber verkneift, gehört zumindest das Knirschen der Kardanwelle bei engen Kehren im Elektroauto der Vergangenheit an. Wo die Trucks aus der vermeintlichen Steinzeit bisweilen ein bisschen sperrig sind und nur wiederwillig ums Eck gegen, ist das Space Shuttle unter den Pick-ups einem Toyota RAV-4 näher als einem Tundra.
Die Technik ist auf die Pampa zugeschnitten, doch die Performance erinnert eher an einen Super-Sportwagen: 3,3 Sekunden reichen im besten Fall, um den Koloss mit einem Kick-Down auf Tempo 100 zu katapultieren und auch noch den letzten Tropfen Kaffee aus dem Becher über dem veganen Leder des Innenraums zu verteilen. Und das Ganze gelingt so mühelos und angesichts der Stille zugleich so unerwartet und unspektakulär, dass man sich jedes Mal wieder selbst erschreckt. Klar, haben auch Autos wie der F-150 einen gewaltigen Punch. Erst recht als Raptor. Doch wo die ihre Kraft mit dem Feingefühl einer Dampfwalze einsetzen, wirkt der R1T fast filigran und steht einem Sportwagen tatsächlich in nichts nach. Und wer sich ein bisschen zurück nimmt oder die Fahrprogramme entsprechend wählt, der schwimmt so entspannt durch die Rush Hour wie in einer großen Limousine – nur eben eine halbe Etage höher und mit einem Gefühl von Geborgenheit, wie es nur ein Hochsitz von 5,50 Metern Länge und mehr als zwei Metern Breite bieten kann.
All das erkauft sich Rivian freilich mit einem technischen Gigantismus, der gut zu den Dinosauriern passt, mit denen Kritiker den Pick-up gerne vergleichen. Wo andere E-Auto-Hersteller einen Motor pro Achse einsetzen, montiert Rivian derer zwei und bietet so bis zu 840 PS. Und das Drehmoment gipfelt im besten Fall erst weit jenseits von 1.100 Nm. Nur zum Stromsparen kann man die Vorderachse abkoppeln und später gibt’s ein Basismodell mit nur zwei Motoren, aber trotzdem mit Allradantrieb und noch immer mehr als 600 PS.
Auch bei den Akkus wird geklotzt und nicht gekleckert. Denn schon die wohl erst 2024 lieferbare Basisversion fährt mit einer Batterie, die mit 105 kWh fast so groß ist wie die des EQS, immerhin die aktuell größte im Europa. Der Large Pack, mit dem jetzt der Verkauf startet, hat sogar 135 kWh und kommt damit im offiziellen EPA-Rating 505 Kilometer weit. Und wer weit in die Wildnis will oder auf dem ganz platten Land wohnt, dem liefert Rivian bald auch einen „Max Pack“ mit irrwitzigen 180 kWh für mehr als 600 Kilometer. Kein Wunder, dass der R1T in keiner Version nennenswert unter drei Tonnen wiegt. Geladen wird dabei nach aktueller Nachrichtenlage mit bis zu 200 kW und Rivian verspricht in 20 Minuten bis zu 220 Kilometer neue Reichweite.
Gemessen an dem Aufwand sind die Preise fast schon moderat. Denn das Basismodell kostet 67.500 Dollar, der Large Pack mit vier Motoren startet bei 85.000 und das Topmodell steht mit 95.000 Dollar auf der Website. Dass es damit schwer werden dürfte, auf einen grünen Zweig zu kommen, hat mittlerweile auch Firmenchef RJ Scaringe gemerkt und kurzerhand die Preise um 20 Prozent angehoben. Weil er das aber rückwirkend getan hat und auch die Vorbesteller zur Kasse bitten wollte, ist der Schuss nach hinten losgegangen: Erst gab der weit über Daimler & Co hinaus geschossene Börsenwert gewaltig nach und dann der Chef. Denn genau so schnell wie sie angekündigt war, war die Preiserhöhung auch wieder gestanzt und Rivian legt jetzt angeblich bei jedem Auto drauf.
Immerhin trifft es keine Armen, selbst wenn der 39 Jahre junge Chef nicht ganz so reich ist wie Elon Musk, wird sein Vermögen auf knapp zwei Milliarden Dollar geschätzt. Und Investoren wie Jeff Bezos oder George Soros nagen auch nicht am Hungertuch. Außerdem lässt sich Scaringe von solchen Rückschlägen nicht bremsen, sondern hält eisern an seinem großen Plänen fest. Zwar hat Rivian schon für den R1T bereits angeblich über 70,000 Bestellungen in dem Büchern, mit denen das ehemalige Mitsubishi-Werk in Illinois bei voller Laufleistung schon mal ein halbes Jahr beschäftigt wäre.
Doch die Amerikaner wollen mehr. Viel mehr: In Georgia planen sie mich für dieses Jahr den Bau eines zweiten Werks, in dem dann ab 2024 zu den 150.000 Autos aus Illinois noch einmal bis zu 400.000 Autos pro Jahr gefertigt werden sollen. Allerdings wollen sie sich dabei nicht alleine auf den Pick-up und seinen Halbbruder R1S mit normalem SUV-Aufbau verlassen. Sondern dann soll auch endlich der elektrische Kastenwagen kommen, wegen dem Amazon-Chef Jeff Bezos mit 700 Millionen Dollar bei Rivian eingestiegen ist. Und die Planungen an einem weiteren, etwas kleineren Modell laufen offenbar auch schon.
Dabei hat Rivian nicht allein den Heimatmarkt im Sinn. Sondern jetzt, wo die Pick-ups das Stigma der Saurier verlieren, werden die Pritschenwagen plötzlich auch in anderen Ländern salonfähig und viele verkappte Cowboys können ihre Leidenschaft endlich ausleben. Offizielle Ankündigungen gibt es bislang zwar noch nicht. Doch am Flughafen Liege wurde bereits der erste R1T aus einem Cargoflieger geladen.