Es scheint, als hätte Daimler mit dem Mercedes-Benz SLS AMG das Segment der Supersportwagen neu erfunden. Die explosive Mischung aus Retrostyle, Hochintelligenz und der Erfahrung aus 50 Jahren Sportwagenbau verdichtet sich zum beliebtesten Opfer der gemeinen Handykamera.
Text: Franz J. Sauer, Fotos: Erich Reismann
Bei all der slicken Perfektion und Schickheit, die Autohäuser der Jetztzeit ziert, findet die wahre Autoseele in den Hinterhofwerkstätten statt. Dort, wo ein Mechaniker noch zurecht so heißt, weil er sich eben auskennt mit Mechanik und nicht nur Elektronik-Tester an irgendwelche neunpoligen Stecker anschließen kann, um hernach am Tester-Bildschirm abzulesen, welches Bauteil getauscht gehört.
Es sind die alten Hasen ihrer Branche, die noch an abertausenden Volkswagen-Käfern herumgeschraubt haben. Die einen Scheibenwischermotor noch in seine Einzelteile zerlegen, um die Kohlen zu tauschen. Und die unter anderem wissen, dass eine rahmenlose Autotür, so wie sie sich öfters bei Sportwagen findet, nicht an der Glasscheibe anzufassen ist, wenn man sie zuschlägt. Es erstaunt kaum, dass jene seltsame Spezies Automensch, die hier beschrieben wird (und weiß Gott auch ihre manifesten Nachteile hat, weil sie beispielsweise den Begriff „Kundenservice“ üblicherweise mit dem Stehsatz „Kunde droht mit Auftrag“ übersetzt) mit neumodischen Automobilen wenig anzufangen weiß. Begriffe wie „Plastikdreck“, „Monsterelektronik“ oder aber „seelenlos“ werden diesbezüglich gern mit abfälligen Handbewegungen kombiniert, meist mit dem süffisant-verächtlichen Grinsen der Überheblichkeit auf den Lippen.
Ein „Teile über die Theke reichenden Einzeller“ ist in Schmids Diktion der unkundige Sachbearbeiter im Teileverkauf eines Autohauses.
Insofern bezeichnen beide Hauptdarsteller, die wir hier an einem heißen Sommernachmittag aufeinandertreffen ließen, einen Sonderfall ihrer Spezies. Der eine, ein Mercedes-Benz SLS AMG, ist nämlich eines der wenigen Supersportautos unserer Tage, dem eine deutlich spürbare Seele eingebaut wurde. Und Manfred Schmid ist nicht nur eine wahre Koryphäe jener schraubenden, immer öligen Zunft. Er lebt auch die Marke Mercedes seit jeher mit schier inbrünstiger Leidenschaft. Freilich ist auch der Schmid, so wie viele andere seiner Branchenkollegen, ein echtes Original. Wiewohl er, wenn er will, weitaus hochdeutscher zu sprechen weiß als viele seiner Kunden, pflegt er einen besonders sensiblen Dialekt des „Car-Speech“, den man nur nach eingehender Beschäftigung versteht. So ist etwa die Beschreibung „Des foat und bleibt stehen“ so ziemlich die edelste Klassifizierung, die einem von ihm gewarteten, zum Verkauf stehenden Gebrauchtwagen zuteilwerden kann.
Ein seines Tuns nicht ganz kundiger Sachbearbeiter am Ersatzteilschalter eines Autohauses wird in Schmids Mundhöhle schnell zum „Teile über die Theke reichenden Einzeller“. Und wer je eine seiner – wissenschaftlich untermauerten – Brandreden zum Thema „Warum ist ein neues Hybridauto tausendmal umweltschädlicher als mein 88er Mercedes-Kombi mit siebenhundertachtzigtausend Kilometern auf der Uhr?“ vor durchaus feindlich gesinntem Publikum erleben durfte, könnte einer ganzen Blase voll Politikern verraten, wie Wahlkämpfe tatsächlich zu gewinnen wären.
„Ehrlich? Mia woin se nua des Auto anschaun.“ Bravo. Solche Polizisten wünscht man sich öfters.
All das Know-how, das Manfred Schmid in den vergangenen dreißig Jahren seiner Stern-Schrauberei ansammelte, verdichtet sich in seiner – tatsächlich in einem Hinterhof verstauten – Autowerkstatt in Wien 14. Das dort herrschende Totalchaos wäre ja noch nicht unüblich für ein Geschäftslokal dieser Gattung. Aber bloß Kenner erstarren ehrfürchtig vor der tatsächlich in Euro-Zeichen festzumachenden Wertansammlung, die dort tagaus tagein vor sich hin gesundet. Gut vier Fünftel der verschachtelten Halle ist mit Langzeitprojekten verstellt. Also Komplettrestaurationen automobiler Einzelstücke, die stückweise zu restaurieren oft teurer käme, als sie von Grund auf neu aufzubauen. Der Nachteil: ihre Rohkarossen und Chassis belegen die Hebebühnen und Werkbänke monate- und jahrelang, die Einzelteile darunter und daneben schön in Kisten geschlichtet. Also bleibt bloß der Eingangsbereich für das „Daily Business“ von Öl- bis Kupplungswechsel.
Und genau dort setzen wir unseren pumperlgesunden SLS in Szene. Von der Form her eine Reminiszenz an den legendären Flügeltürer-300SL aus den Fifties (der seine stilbildenden, nach oben aufschwingenden Türen übrigens aus einer technischen Not heraus verpasst bekam) stellt der beim hauseigenen Tuner AMG hergestellte Supersport-Benz eine der aktuell heißesten Begehrlichkeiten der gesamten Autowelt dar. Sein Motor ist revolutionär, es ist ein mit allen Tricks und Kniffen aktuellster Ingenieurskunst veredelter V8, der in der übrigen Mercedes-Motorenpalette eigentlich keine Geschwister kennt. Seine Platzierung im Fahrzeug, nämlich hinter der Vorderachse, aber vor dem Armaturenträger, bedingt nicht nur eine schier endlose Schnauze, sondern auch eine nahezu perfekte Gewichtsverteilung, was sich äußerst positiv auf Fahrwerk und Straßenlage des Boliden auswirkt. Jene Langschnäuzigkeit, überhaupt: Die gesamte Gestrecktheit des SLS lässt bei allen Betrachtern, egal ob autodeppert oder fahrradorientiert, Van-Besitzer oder Porschefahrer, Uraltoma oder Dreirad-Jungspund eine fast unisono wahrzunehmende Reaktion erklingen, die meist völlig unzurückgehalten zutage tritt: „Schön!“
Schön. Ein Klassiker, schon jetzt. Mit dem Drehmoment von an ganzen Hödlmayer voller Golf GTI unter der Haube.
Manfred Schmid
Fährt man mit dem SLS AMG durch die Stadt, wünscht man sich jene seligen Zeiten retour, in denen Mobiltelefone bloß telefonieren konnten, und Fotoapparate sperrige, unhandliche Plastikkisten waren, in die man kostspielige Zelluloidrollen einlegen musste. Noch nie-nie-nie geriet ich so oft ins Fadenkreuz irgendeiner Handy-Knipser. Man bekommt als SLS-Pilot eine Ahnung davon, wie sich von Paparazzi verfolgte Promis fühlen müssen. Und weil das Fortbewegen eines eigenen Fahrzeuges den Handy-Fotografen kaum davon abhält, den geilen Benz auf der Nebenspur abzulichten, fühlt man sich bisweilen mit einem sehr-sehr breiten Auto an den äußersten Rand einer sehr-sehr engen Fahrspur abgedrängt. An deren Außenkante meist tückische Randsteine lauern, die Felgen wie jene des SLS zur Jause nehmen.
Bei aller Extravaganz im Auftritt hat der SLS AMG seiner Herkunft zwei entscheidende Vorteile zu verdanken. Erstens: Abgesehen von den konstruktionsbedingt üppigen Außenmaßen fährt er sich absolut wie ein Alltagsauto. Zweitens: Er tauscht die Hysterie ähnlicher Exponate südländischer Herkunft generös gegen das Gefühl unverwüstlicher Solidität, was wiederum Schmids Expertise zum Thema in zitierbare Nähe rückt: „Wirklich gelungen, schön von hinten bis vorn, ein Klassiker schon jetzt.“ Und: „Mit dem Drehmoment von einem ganzen Hödlmayr (Anm: Autotransporter) voller Golf GTI unter der Haube.“ Unter „Fahreindrücke“ ist bloß zu vermerken: Zu kurz. Man hätte ruhig noch ein paar hundert Kilometer mit dem SLS abspulen können. Möglicherweise wäre uns dann öfters Denkwürdiges wie jene Polizei-Kontrolle in Rust widerfahren. Das Originalzitat des anhaltenden Organs hat das Zeug zur Legende: „Ich will ehrlich sein zu Ihnen – wir wollten uns nur das Auto anschauen.“ Bravo. Solche Polizisten wünscht man sich öfters.