DriveGREEN

Nio EL7: Der zweite Streich des Neulings

Der EL7 war nur das Vorspiel. Zwar hat Nio mit seinem elektrischen Oberklasse-Modell beim Start im letzten Oktober bereits viel Aufmerksamkeit erregt. Doch weil Limousinen – erst recht in dieser Klasse – zum Bedauern automobiler Ästheten bei uns derzeit kaum mehr eine Rolle spielen, konnten die heimischen Konkurrenten die Gefahr noch höflich weglächeln. Dafür trifft es Audi, BMW, Mercedes und bald auch Volvo nun um so härter. Denn wenn die Chinesen ihrem elektrischen Erstling in diesen Tagen auf der gleichen Basis den EL7 zur Seite stellen, zielt der Newcomer in das einträglichste Segment des E-Marktes und nimmt mit einem SUV von 4,92 Metern Autos wie den Q8 e-tron, den iX, den EQE SUV und den kommenden EX90 ins Visier. 

Anmerkung: In Deutschland ist Nio bereits auf dem Markt vertreten und auch bei uns in Österreich sollte es 2023 so weit sein. Alle Preise und Infos beziehen sich daher auf den deutschen Stand.

Zwar will es Nio den Kunden eigentlich besonders leichtmachen, denkt gar nicht ans verkaufen, spricht deshalb nur von Usern und setzt vor allem auf Abos, deren Monatsraten je nach Laufzeit zwischen 1.299 und 1.699 Euro liegen. Aber weil die Kunden hierzulande konservativ sind und Nio das Ohr nah am Markt hat, gibt es jetzt doch eine klassische Preisliste – und damit ein paar Komplikationen. Denn zum Grundpreis von 73.900 Euro kommen wahlweise nochmals 12.000 oder 21.000 Euro für die beiden Batterien mit 75 oder 100 kWh und grob 400 oder 500 Kilometer Reichweite – oder man mietet zumindest die Akkus und zahlt dafür dann nochmal 169 oder 289 Euro im Monat. Da muss der Ärger über den alten schon groß sein, dass man sich über ein derart kompliziertes Modell an einen neuen Hersteller bindet. 

Aller Anfang ist schwer: Das gilt leider nicht nur für den Erwerb des Nio, sondern auch für seinen Betrieb. Denn im Ringen um ein radikal reduziertes Bedienkonzept hat Nio selbst die Grundeinstellungen alle auf den Touchscreen und die Wippen im Lenkrad verlagert. Ja, für den Sitz gibt es als Redundanz einen klassischen Schalter unten am Polster. Doch Spiegel und Lenkrad lassen sich allein am Bildschirm auswählen und dann im Volant verstellen. Und wer das Setting nicht speichert, fängt nach dem Stopp gleich wieder von vorne an. 

Doch danach wird Autofahren so einfach, wie man es sich bei vielen anderen Herstellern vergeblich wünscht. Die Wippe auf dem Mitteltunnel auf D und los geht’s. Die Lenkung ist dabei präzise. Das luftgefederte Fahrwerk mit bis zu neun Zentimetern Hub fürs bequeme Ein- und Aussteigen oder die windschnittige Fahrt auf der Autobahn ist komfortabel, aber verbindlich. Und Kraft gibt es im Überfluss: Nicht umsonst fährt der EL7 immer mit zwei E-Maschinen mit 180 kW im Bug und 300 kW im Heck, die so nach alter Währung zusammen auf 653 PS kommen mit bis zu 850 Nm an allen vier Rädern reißen. Kein Wunder, dass der EL7 in 3,9 Sekunden auf Tempo 100 schießt, nur um allerdings bereits bei 200 km/h wieder eingefangen zu werden. 

Dabei fährt er so gut wie die deutsche Konkurrenz. Er sieht mindestens genauso gut aus. Und beim Ambiente haben die Chinesen einen schönen Kompromiss gefunden zwischen der asketischen Leere eines Tesla und dem digitalen Protz der heimischen Hersteller. Doch gehen sie bei zwei Details einen ganz eigenen, sehr chinesischen Weg: Bei der Bestuhlung, weil der Beifahrersitz samt elektrischer Fußraste unter dem Handschuhfach zur bequemen Liege wird. Und bei der Bedienung, weil sie dem Bordsystem buchstäblich ein Gesicht geben: Nomi heißt der charmante Knubbel auf dem Armaturenbrett, der höflich mit den Augen klimpert und die Insassen mit jedem Kilometer besser kennen lernt. Nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Start ist ihr Deutsch noch ein wenig holprig und ihre Witze haben den Humor eines Erstklässlers, doch sie schnappt ständig neue Worte auf, bietet immer wieder Hilfe an und wird so über die Zeit zu einem digitalen Kompagnon. Schade nur, dass sie bisweilen was von einem Besserwisser hat und den Fahrer streckenweise so oft zur Ordnung ruft, dass der ihr am Ende den Mund verbietet. 

Den größten Unterschied macht Nio aber beim Laden. Auf den ersten Blick hinken die Chinesen in dieser Disziplin zwar meilenweit hinterher, weil der elektrische Treibstoff am Wechselstrom-Stecker mit maximal 11 und am Gleichstrom nur mit bis zu 130 kW fließt. Doch auf den zweiten haben sie die Nase sogar vorne: Schließlich setzt Nio als aktuell einziger Hersteller auf den Akku-Wechsel und „lädt“ deshalb so schnell, wie Verbrenner tanken. Denn binnen fünf Minuten tauscht ein Roboter in einer Art Automaten-Garage den leeren Block aus und installiert einen, der nicht wie an der Steckdose meist nur zu 80, sondern tatsächlich zu 100 Prozent geladen ist. Allerdings nur, wenn man den Nio im Abo fährt oder zumindest die Batterie gemietet hat. Der größere Haken an der Sache: Während es in China schon über 1.100 Wechselstationen gibt, stehen in zum Beispiel in Deutschland bislang nur zwei und bald drei parat. Aber immerhin hat sich Nio mit EnBW zusammengetan und will alleine in dieser Partnerschaft mittelfristig fast zwei Dutzend Swapstations einrichten. 

Bei den Kunden ist der Newcomer zwar noch nicht so recht angekommen. Zumal es bislang nur ein so genanntes Nio House in Berlin und bald eines in Frankfurt gibt und der Vertrieb nur übers Internet erfolgt. Doch zumindest die Premium-Platzhirsche hat Nio bereits aufgeschreckt – und im Fall von Audi sogar gegen sich aufgebracht. Denn die Bayern fürchteten eine phonetische Verwechslungsgefahr zwischen ihrem S7 und dem ursprünglich als ES7 geplanten Geländewagen und haben die Chinesen deshalb vor den Kadi gezerrt. Dort haben die Herren der Ringe zwar vordergründig einen Erfolg eingefahren, dabei aber eigentlich nur bewiesen, wie nervös sie der Newcomer macht – und wie ernst der Emporkömmling deshalb zu nehmen ist.

Jakob Stantejsky

Freut sich immer, wenn ein Auto ein bisserl anders ist. Lieber zu viel Pfeffer als geschmacklos.

Weitere Beiträge

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"