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Nio ET7: Eine neue Perspektive

Als Tesla-Konkurrenten sehen sie ihn alle und manche stempeln ihn sogar schon zum „Tesla-Killer“. Denn binnen acht Jahren hat der chinesische Milliardär William Li seine Firma Nio zum wahrscheinlich aussichtsreichsten Start-Up aus der Volksrepublik gemacht. Nachdem er zuhause seit vier Jahren Autos verkauft und mittlerweile auf eine Flotte von 250.000 Fahrzeugen schauen kann, wagt er jetzt den großen Schritt ins Ausland und will sich nach einem bescheidenen Vorspiel im Elektro-Musterland Norwegen ab diesem Herbst auch bei uns mit den Besten messen: „A New Horizon“ heißt die Kampagne, mit denen er den Fahrern von Mercedes EQS, dem Porsche Taycan und seinem Zwilling Audi E-Tron GT, des kommenden BMW i7 und natürlich des Tesla Model S neue Premium-Perspektiven bieten will und dafür noch im Oktober sein Flaggschiff ET7 ins Rennen schickt.

So fortschrittlich und erfolgreich diese Autos auch sein mögen, sehen sie gegen den ET7 plötzlich ganz schön alt aus. Das liegt nicht nur am eleganten Design des 5,10 Meter langen Fließhecks, das mit einem cw-Wert von 0,208 fast so gut ist wie der Mercedes EQS und dabei sehr viel filigraner auftritt. 

Und es liegt auch nicht an der Kabine, die unter dem doppelten Panorama-Dach erstens geräumiger ist als bei den deutschen Premium-Stromern und zweitens die bislang beste Balance findet zwischen der fast schon kargen Nüchternheit eines Tesla, dem antiquierten Layout eines Techno-Porsche und der digitalen Opulenz eines Mercedes. 

Sondern es liegt vor allem an dem schier unbeirrbaren Glauben an den Fortschritt, den Nio im ET7 serienmäßig installiert – und sich eine ganze Menge kosten lässt. Im Kleinen ist das Nomi, der charmante Knubbel auf dem Armaturenbrett, der viel mehr ist als eine Sprachsteuerung, weil der dem Bediensystem ein Gesicht gibt, die Insassen mit jedem Kilometer besser kennen lernt, ständig neue Worte aufschnappt und neue Hilfe anbietet und so über die Zeit zu einem digitalen Kompagnon wird. 

Und im Großen ist das die Elektronik zum Autonomen fahren. Denn auch wenn der ET7 aktuell nicht mehr kann als jeder Tesla und hinter dem Drive Pilot des EQS als erstem System für den so genannten Level 3 für echtes und vor allem legales freihändiges Fahren zurück fällt, hat er schon heute alles an Bord, was es sogar für völlig fahrerloses Fahren braucht – von den Radaren und Lasern in den markanten Höckern über der Frontschaube bis zu den gleich vier Nvidia-Prozessoren im Kofferraum, die mehr Rechenleistung haben als 100 Playstations und pro Minute mehr Daten verarbeiten, als Netflix für einen überlangen Kinofilm in bester Qualität durch den digitalen Äther bläst. 

Fast schon banal ist dagegen das Fahren – und auch das ist mehr als konkurrenzfähig. Eine programmierbare Lenkung, das adaptive Fahrwerk mit Luftfedern, die Empfindlichkeit des Fahrpedals und die Stärke der Rekuperation – all das verändert sich auf Knopfdruck und macht den Nio wahlweise zu einem gemütlichen Gleiter oder zu einem bissigen Fighter, der sich nicht nur bei den reinen Fahrleistungen, sondern auch beim Fahrgefühl mit manchem Sportwagen messen kann. 

Treibende Kraft sind dabei immer zwei E-Maschinen mit 180 kW im Bug und 300 kW im Heck, die so nach alter Währung zusammen auf 653 PS kommen mit bis zu 850 Nm an allen vier Rädern reißen. Kein Wunder, dass der ET7 in 3,8 Sekunden auf Tempo 100 schießt, nur um bei 200 km/h für einen vermeintlichen Tesla-Killer ungewöhnlich früh wieder eingefangen zu werden. 

Wo der ET7 – zumindest bis zum Debüt der für das erste Quartal des nächtsen Jahres angekündigten Feststoffbatterie für mehr als 1.000 Kilometer Reichweite – aber tatsächlich hinterher zu hinken scheint, das ist bei den Akkus. Denn die sind mit 75 und 100 kWh für 385 oder 505 Kilometer nicht nur am unteren Limit der Konkurrenz. Sondern mit maximal 130 kW Ladeleistung und bestenfalls 40 Minuten für die ersten 80 Prozent sind sie obendrein auch noch ungewöhnlich langsam.

Doch der erste Eindruck täuscht. Schließlich setzt Nio als aktuell einziger Hersteller auf den Akku-Wechsel und „lädt“ deshalb so schnell, wie Verbrenner tanken. Denn binnen fünf Minuten tauscht ein Roboter in einer Art Automaten-Garage den leeren Block aus und installiert einen, der nicht wie an der Steckdose meist nur zu 80, sondern tatsächlich zu 100 Prozent geladen ist. Einziger Haken an der Sache: Während es in China schon über 1.100 Wechseltstationen gibt, stehen in Europa nur drei, von denen die einzige deutsche in Augsburg gerade erst eröffnet wurde. Und selbst wenn in Berlin bald die zweite aufmacht, wäre Nio schon zufrieden, wenn es bis zum Jahrsende 20 auf dem Kontinent wären. Da mahlen die Mühlen in der europäischen Bürokratie einfach langsamer als in China.

Er sieht gut aus und fährt klasse, hat zukunftsfeste Technik, ein viel versprechendes Ladesystem und umgarnt den Kunden zudem mit der charmanten Nomi, die während der Fahrt auf Kommando sogar Selfies schießt – da lassen sich Nickligkeiten wie der fehlender Frunk, die kleine Kofferraumluke vor der starr montierten Rückbank oder das vergessene Handschuhfach gut verschmerzen. Doch zum Bestseller wird das dem ET7 vielleicht nicht reichen. Das weiß offenbar auch Mr. Li und will sei Flaggschiff deshalb gar nicht erst verkaufen. Sondern genau wie die für Frühjahr angekündigten Ableger ET5 als etwas kleinere Limousine und ES7 als Antwort auf BMW iX oder den Polestar 3 wird es den ET7 nur im Abo geben – je nach Laufzeit und Ausstattung zu stolzen Preisen ab 1.190 Euro im Monat. 

Und das ist nicht der einzige Bruch mit den Traditionen unseres Kfz-Gewerbes. Sondern statt auf Händler setzt Nio auf einen Online-Shop und die so genannten Nio-Houses, von denen das erste jetzt bald in Berlin als Treffpunkt der Nio-Familie eröffnet und mehr Lounge sein will als Laden. Und wo sich andere Hersteller ein teures Werkstattnetz leisten müssen, hat Nio 14 Service-Partner ins Boot geholt, die der Kunde aber nie zu Gesicht bekommen wird. Denn wenn es Probleme gibt mit dem Auto, dann kommt ein Team zum Kunden, repariert vor Ort oder lässt einen Ersatzwagen da.

Zwar sind die Ankündigungen aller Start-Ups mit der gebührenden Vorsicht zu genießen, und mit Blick auf Byton oder Faraday Future gilt das für die chinesischen offenbar ganz besonders. Doch auch wenn Nio den Mund bisweilen ebenfalls ziemlich voll genommen hat, hat Firmenchef Li gerade reichlich Rückenwind. Denn nachdem seine Firma schon mehr als einmal am Konkurs vorbei geschrammt ist, meldet die Marke gerade einen Auslieferungsrekord – selbst wenn sie bei Tesla oder Porsche über knapp 32.000 Autos im Quartal herzlich lachen werden. Doch Li hat einen langen Atem. Den wird er allerdings auch brauchen. „Wir laufen hier einen Marathon und haben vielleicht gerade mal die ersten 1.000 Meter geschafft.“

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