Ausführlich diskutiert und kritisiert haben Experten aller Couleurs bereits die Neuauflage des Land Rover Defender. Fehlte noch die Erprobung in Echt. Denn Corona hatte die Fahrpremiere aufgeschoben. Aber nicht aufgehoben. Wir konnten den 110er zwar weder in die Wüste, noch in den Dschungel entführen. Doch tat’s (Mitte Juni) ein ernsthafter Offroad-Parcours in Deutschland auch sehr gut. Als Startsignal für die Eroberung der – ganzen – Welt.
Text: Beatrix Keckeis-Hiller / Fotos: JLR
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Ändert sich was, so gibt’s gern zuerst einmal Geschrei. Erst recht, wenn man etwas liebgewonnen hat, samt allen Ungereimtheiten und Ungeschliffenheiten, wie den Land Rover Defender. Seine Produktion ist 2016 ausgelaufen. Im Vorfeld der Entwicklung des Nachfolgers hat sich der Kultstatus des Klassikers nochmals zementiert. Zumal der Neue einen Paradigmen-Wechsel angekündigt – und auch vollzogen – hat: vom Hardcore-Offroader zum SUV. Der aber die Wildnis ebenso bewältigen können soll wie den urbanen – familiären – Alltag in allen seinen Facetten. Passé sind damit Leiterrahmen und Starrachse, ebenso wie manuelle Schaltungen und andere robust-rustikale Ingredienzien der Ikone.
Wir kennen etliche Metamorphosen des Defender, der nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, als Land Rover begonnen hat und erst 1990 seinen Verteidiger-Namen verpasst bekommen hat – als der Discovery eine Goldene Mitte zwischen Landie und Rangie (der heuer seinen Fünfziger feiert) markierte. In seinen letzten Jahren (bis 2016) ist uns der Klassiker in unterschiedlichsten Aggregatzuständen untergekommen: als Kurzer, als Langer, als Pick Up, als Rechtslenker, als Linkslenker, in zerbombter Kondition, in prächtiger Fabriksneuheit, als elektrisch angetriebener Prototyp und als 408 PS starke Sonderedition mit Fünfliter-V8-Sauger (2018). All das teils in wildem Gelände, in Schnee, auf Eis und im Schlamm, teils auf gepflegtem Asphalt, auf Stadt-, Dorf- und Landstraßen, auch auf der Autobahn.
Einige Probesitz-Rendezvous mit dem Neuen bereits intus, nimmt man sich anfangs vor, nicht zu vergleichen. Sondern den Neuen zu nehmen, wie er ist. Mit seiner vom Reserverad auf mehr als fünf Meter gestrecken Länge plus mehr als drei Metern Radstand samt mehr als zwei Metern Breite und fast zwei Metern Höhe. Man vergleicht aber doch: Einsteigen und nicht hineinwinden ist angesagt. Platz nehmen auf hoch angesetztem, großzügig geschnittenem Gestühl mit Seitenhalt. Der Fahrersessel ist in alle Richtungen justierbar, haarfein mit dem griffig-großen Volant abstimmbar. Platz ist in Hülle und Fülle, um die Ellbogen und um den Kopf, vorne wie hinten (ganz hinten, wenn die dritte Reihe an Bord ist, durchaus auch, für Kinder). Die Pedale – eh nur zwei, Gas und Bremse – sind dort, wohin die Füße sich automatisch stellen, Hüfte und Rücken müssen nicht (mehr) verdreht werden.
Die Türen schließen mit einem „klack“, ganz ohne „bäng“. Der Motor, im konkreten Testfall die 240-PS-Leistungsstufe des Zweiliter-Vierzylinderdiesels, macht zwar aus dem Selbstzünder-Dasein kein Hehl, schnurrt aber mehr als er nagerlt. Und macht sich, einmal warmgelaufen, bei geschlossenen Fenstern für den meisten Rest der Zeit akustisch kaum weiter bemerkbar. Da ergibt die Wahl eines feinen HiFi-Systems Sinn, oder eine fein komponierte Playlist (die man auch streamen kann). Fürs Portionieren der Fahrstufen sorgt die achtstufige Automatik. Der Schalthebel sitzt griffgünstig auf dem fix montierten oberen Anbauteil des Armaturenbords.
Eine erste Orientierung zur Bedienung des Neo-Engländers ist keine Rätselaufgabe: Die Sicht aufs Informations-Instrumentarium ist bei allen Lenkrad-Positionen unverstellt. Zentral postiert, doch direkt im Blickfeld ist das zehn Zoll große Touch-Display des Infotainment-Systems. Es ist garniert mit einer logischen Anordnung von analogen Bedienelementen, Schaltern und Tasten, die mit den digitalen Steuerungen korrespondieren. Im Prinzip ist das schon bekannt aus dem Range Rover Velar und weiteren Rangie-Kandidaten, doch es ist weiterentwickelt. Schneller, präziser, übersichtlicher, heißt es jetzt Pivi Pro, ist permanent online, auf Basis zweier fix verbauter SIM-Cards, was langwieriges Hochfahren obsolet macht und Software-Updates „over the air“ ermöglicht, ohne den Smartphone-Empfang zu stören.
Dass der Motor fein und spontan am Gas hängt erstaunt nicht so sehr. Doch ein eindrucksvolles Aha-Erlebnis beschert – wir vergleichen immer noch – die Lenkung. Sie wirkt vielleicht ein wenig zäh, nach Art eines Geländewagens, reagiert jedoch prompt und präzise. Die Testroute rund ums und auf dem Land Rover Experience Center Wülfrath bei Wuppertal (Deutschland) enthielt neben engwinkeligen Dorfpassagen und sehr schmalen Landsträßchen auch ein Sortiment Haarnadelkurven. Die gehen ganz easy, mit simplem Einlenken, ohne vorausschauendes Navigieren à la Segelboot. Nicht unerwartet, aber doch überraschend gestaltet sich die Autobahnetappe. Der 2,4-Tonner galoppiert flockig und locker bis über die 180 km/h-Marke. Viel mehr sollte mit dieser Motorisierung ohnehin nicht möglich sein, außerdem sind auch in Deutschland die 100er-Zonen längst sehr großzügig installiert.
Dass sich bei allen Tempolagen weder im Unter- noch im Obergebälk nichts rührt, das beeindruckt. Die Fahrwerksabstimmung ist fast sportlich, der Komfort ist damit weit entfernt von Schaukeligkeit, daran mag auch die Luftfederung ihren Anteil haben. Jedenfalls neigt sich nichts und es zittert auch nichts, weder beim Beschleunigen noch beim Bremsen, auch dem Seitenwind stellt sich der Defender ungerührt entgegen. Dass sich in flotter angegangenen Ecken das Gewicht bemerkbar macht, das liegt in der Natur des Segments. Wie sich das im Fond auswirkt konnte noch nicht ausprobiert werden. Wegen Corona-bedingter Abstandshalte-Maßnahmen gestalteten sich die ersten Testfahrten als Soloprogramm.
So war es auch beim Geländegang im stillgelegten Kalksteinbruch. Instruiert per Funk, um Verirren zu verhindern, auf all den Steigungen und Gefällen, im Dickicht des Gebüschs und des Schilfs, auf den verwinkelten fein- und grobschottrigen Pfaden sowie natürlich und künstlich angelegten Stein- & Felsstufen, zwischen den Löchern und den Rillen, auch ging’s über ein Holzbrückerl, das der Defender mit seiner Spurbreite fast komplett auffüllt. Gefordert waren alle Talente des elektronisch gesteuerten permanent aktiven Allradantriebssystems samt Untersetzung und zwei mechanischen Sperren.
Das ist, unter Einbeziehung aller Kamerasysteme, die einen 360-Grad-Blick samt Unterbodenschau ermöglichen, großes Kino. Ein entspanntes. Die Automatik-Position des Systems (All Terrain Response 2, inkludiert nun auch einen Wat-Modus) regelt die Traktion wie von Zauberhand. Für individuelle Ansprüchen kann man die einzelnen Programme konfigurieren. So oder so bleibt: Gas geben, mit der Drehzahl spielen, Lenken und Bremsen, viel mehr hat man im neuen Defender im Grunde genommen nicht zu tun. Was im Alten das Gefühl für die knorrige Schaltung, das Einlegen der Untersetzungsstufen (ging oft nur bihändig), für den Gas- und den Bremsfuß, ebenso der Balance und dem Kalkulieren der Lenkung gefordert hat, das kann man im Neuen der Konzentration aufs Fahren zukommen lassen.
Das klingt unsportlich? Mag sein. Doch der neue Defender ist, was er ist. Ein Universalwerkzeug, mit dem auch der Offroad-Laie schnell umgehen können soll. Er spreizt seine Talente vom Familientransport bis zum ernsthaften Geländeritt, beides hoch komfortabel dank feinst abgestimmten Fahrwerks. Ob es nun „echt“ ist oder nicht, wenn die Bandscheiben stets an ihrem Platz bleiben und die Zahnplomben auch, darüber kann man diskutieren. Oder akzeptieren, dass sich die Rahmenbedingungen und Ansprüche geändert haben. Und: Dass Tradition nicht in Stein gemeißelt ist. Wer auch immer den Satz „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“ kreiert hat, ob Jean Jaurès oder Gustav Mahler oder jemand anderer: Er ist auf den neuen Defender anwendbar.
Nicht zuletzt steuert er ein Fülle praktischer Details bei: sinnvolle und rutschfest ausgeführte Ablagen und fast unzählige Staufächer zum Beispiel, auch gibt es eine Handy-Ladeschale. Auf die ausladende Mittelkonsole samt Kühlfach kann man verzichten, entweder zugunsten freien Durchstiegs oder zwecks Montage eines Jump Seats zwischen den Vordersitzen. Die Fondbank ist längst verschiebbar. Die dritte Sitzreihe im Heck besteht aus zwei – simpel per Schlaufenzug aufstell- und versenkbaren – vollwertigen Sesseln samt Kopfstützen. Acht Sitzgelegenheiten reinstellen geht allerdings nicht – entweder Jump Seat oder Rear Seats. Dafür hat’s unter anderem: Riffelblech als Kofferraumboden. Jede Menge USB-Anschlüsse sind im Fahrzeug verteilt, an der Mittelkonsole hat’s je einen mit A- und C-Standard.
Die Listen des Extra- und Zubehörprogramms sind lang. Die Ausstattungspakete adeln den Neo-Defender entweder zum urbanen Promenierer oder zum Abenteurer. Ein Dachzelt etwa kann dazugehören. Auf alle Fälle aber eine Anhängerkupplung. 3,5 Tonnen kann er – gebremst – ziehen, ob ein Diesel oder ein Benziner unter der Haube schlägt. In zweiterer Kategorie markiert ein Dreiliter-Reihensechszylinder mit 400 PS derzeit die Leistungsspitze. Damit bedient der Defender in seiner neuen Generation auch die Benziner-Fraktion – was nicht zuletzt die Eintrittskarte für den US-Markt ist. Erstmals ist der Engländer auch in den Vereinigten Staaten zu haben, gleiches gilt für China, Russland und die arabischen Welten.
Der fünftürige 110er rollt seit Mitte Juni zu den Händlern. Mehr oder weniger direkt aus Nitra, Slowakei, wo er gefertigt wird. Er kostet ab 66.580 Euro (mit 200-PS-Diesel, Basisausstattung). Nachgeschoben wird, gegen Ende des Jahres, der dreitürige 90er (zu einem Preis von ab 59.065 Euro). Dazu kommen werden die Versionen mit Plug-In-Hybrid-Antriebsstrang (Zweiliter-Benziner plus E-Aggregat, wie im Range Rover und im Range Rover Sport). Für Anfang 2021 als auslieferungsfertig angekündigt sind die Nützlingsvarianten, lang und kurz. Mit der Option, siehe oben, auf einen dritten Sitzplatz.