Mercedes EQS SUV: Hot and Cold

Hot and Cool – normalerweise ist das eine Phrase, mit der Mercedes-Designchef Gorden Wagener seine Zuhörer gerne einmal zu oft behelligt, wenn er das Wechselspiel in seinem Styling beschreibt. Doch diesmal bewegt sich Holger Enzmann im Wechselbad und anders als der Designchef meint er es wörtlich – und hat allen Grund dazu. Denn der Ingenieur leitet die Gesamtfahrzeug-Entwicklung des EQS SUV, das als dritter Ableger der elektrischen Oberklasse-Familie aus Stuttgart nach der EQS Limousine und dem kleinen Bruder EQE nach Ostern seine Weltpremiere auf der Motorshow in Peking feiert und zum Jahresende in den Handel kommen soll. Und damit sich der dritte im Bunde erfolgreich gegen Konkurrenten wie den BMW iX oder natürlich das Tesla Model X behaupten kann, ist Enzmann mit den Prototypen seit Wochen auf Weltreise und nimmt die Erlkönige in allen Klimazonen kräftig ran. 

Vor ein paar Wochen erst war er in der Wüste von Nevada unterwegs und hat rund um Las Vegas unter der Hitze gelitten, nur um jetzt nördlich des Polarkreises in Arjeplog auf einem Eissee die Kälte in seine Knochen ziehen zu lassen. Hot and cool – wenn einer davon reden darf, dann Enzmann. „Aber wir brauchen diese Tests unter unterschiedlichen Extrembedingungen“, sagt der Entwicklungsleiter, der dabei neben dem Wellnessprogramm für die Passagiere auch die Wohlfühlbedingungen für die Batterie prüft. Er schaut, wie sich Wüstenstand oder feinster Pulverschnee mit Lüftungen und Dichtungen und dem konkurrenzlosen Hepafilter vertragen. Und natürlich werden auf Sand und im Eis auch die Fahrprogramme und die Regelsysteme abgestimmt, die den über 2,5 Tonnen schweren Riesen unter allen Umständen komfortabel auf Kurs halten sollen. 

Dabei haben Enzmann und seine Kollegen eine handfeste Überraschung erlebt. Denn wider Erwarten hat sich der aufgebockte EQS mit seinen mehr als fünf Metern Länge und bald drei Tonnen Gewicht auch abseits der Straße extrem gut geschlagen: „Das gigantische Drehmoment der E-Motoren, ihr verzögerungsfreies Ansprechen und die viel präziser nutzbaren Assistenzsysteme – all das hat uns in den Dünen und hier auf Schnee und Eis weiter gebracht, als wir erwartet hatten“, sagt der Entwickler und steuert seinen Erlkönig gleich noch einmal in den Tiefschnee. Allerdings nicht, ohne vorher in den Offroad-Mode zu wechseln, den sie eiligst noch als fünftes Fahrprogramm nachcodiert haben, den entsprechenden Bildschirm mit Kompass & Co inclusive. 

Zwar wühlt sich das EQS SUV beim Schneewalzer tatsächlich tapfer wieder aus der weißen Pracht, selbst wenn es dafür alle anderen mit einer Schicht eisigen Puderzuckers überzieht. Und auf den Handyvideos aus der Wüste sieht man ähnlich imposante Bilder. Doch zuallererst einmal will der aufgebockte EQS ein vornehmer People Mover sein, der Freund der vornehmen Familie mit grünem Gewissen. Zur größeren Bodenfreiheit und dem bei acht Zentimetern mehr Sitzhöhe bequemeren Zustieg und der besseren Übersicht gibt es deshalb vor allem üppigere Platzverhältnisse im Fond: In der zweiten Reihe sitzt man dank höherem Dach und verschiebbarer Rückbank noch etwas bequemer als in der Limousine und der Kofferraum hinter der aufrechten Klappe ist so groß, dass Mercedes dort auf Wunsch eine dritte Sitzreihe einbaut. So wird das EQS SUV zur vornehmen Alternative zu dem doch etwas nüchternen und vor allem noch größeren EQV oder dem für Hinterbänkler jenseits der Vorschule schwer zumutbaren EQB. Und auch wenn das Ambiente ganz ähnlich ist wie in der Limousine, hat Mercedes für den Hyperscreen ein zum familienfreundlichen Fahrzeugkonzept passendes Update: Erstmals darf der Sozius auf seinem Bildschirm nun auch während der Fahrt Filme oder Fernsehen schauen, weil die Kamera den Blick des Fahrers im Auge hat und so sicherstellt, dass der seine Augen immer auf der Straße hat. 

Auch wenn der Zuschnitt neu ist, steckt unter dem Blech freilich die bekannte Technik. Das gilt für den Triebstrang mit wohl immer zwei E-Motoren zwecks des gattungsgerechten Allradantriebs und die netto 107 kWh große Batterie genau wie für die Luftfederung und natürlich die Hinterachslenkung mit bis zu elf Grad Einschlagwinkel, die damit erstmals bei Mercedes auch in einem SUV zum Einsatz kommt. 

Wenn Enzmann auf dem Eissee mal kurz den Platz hinter dem Lenkrad anbietet, erlebt man das riesige SUV deshalb als überraschend handlich und schneidet über den Handlingkurs wie Georg Hackl über die olympische Rodelbahn. Die lange links, die beiden kurzen rechten Haken und das schnelle S nimmt der GLS für die Generation E deshalb so leicht, als hätten sie uns heimlich einen von den GLC-Prototypen untergejubelt, die hier oben am Polarkreis schließlich auch gerade beim Wintertest sind. Und selbst der Spurwechsel auf der schnellen Geraden zwischendrin bringt den Riesen nicht aus der Ruhe, weil dann die Hinterräder in der Gegenrichtung einschlagen. Und wem das alles zu langweilig, weil vorhersehbar ist, den schickt Enzmann nochmal über den Kurs und aktiviert vorher den Sportmodus, der ein paar Grade mehr Driftwinkel zulässt und entsprechend mehr Puls bringt.

So redselig er dabei über die Abstimmung philosophiert und über die verschiedenen Höhenniveaus der Luftfederung, so wenig lässt er sich zu den finalen Eckdaten des Antriebs entlocken. Doch braucht es nicht viel Phantasie und Transferleistung, um sich für den großen Akku statt der fast 800 gute 600 Kilometer Reichweite auszu malen und mal vorsichtig mit einem analog zum EQE 408 PS starken EQS 500 sowie einem EQS 580 mit 524 PS und später dann mit einem AMG 53 mit 651 oder in der Performance-Version gar 761 PS zu rechnen. 

Zwar spricht vieles dafür, dass der EQS das bislang beste elektrische SUV aus Stuttgart wird – schon allein weil es das erste ist, dass die Schwaben auf ihrer ersten dezidierten Akku-Architektur aufbauen. Aber auch wenn sich Erprobungschef Enzmann große Hoffnungen auf einen üppigen Verkaufsanteil macht, kann der EQS freilich nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Muss er auch nicht. Denn er bekommt ja bald Begleitung: Zum Jahreswechsel gibt’s für Kunden mit etwas knapperen Kassen auch einen geländegängigen Ableger des EQE und wer noch mehr Glanz und Gloria braucht, der bekommt spätestens Mitte 2023 auf Basis des EQS SUV auch den ersten elektrischen Maybach. Ach ja, und wenn nicht alles täuscht, dann surren da hinten durch den Schnee auch schon ersten Prototypen der elektrischen G-Klasse, so dass künftig auch echte Offroad-Abenteuer ohne schlechtes Gewissen drin sind. 

Die mobile Version verlassen