Mercedes S-Klasse Drive Pilot: Schau mal, freihändig!
Ein ganz normaler Werktag morgens um acht, die A40 ist wie immer dicht und die Gesichter in den anderen Autos werden lang und länger. Nur Jochen Haab beginnt mit jedem Kilometer mehr zu strahlen, um den das Tempo fällt. Denn für ihn ist jeder Stau eine Schau und zumindest während der Arbeitszeit kann ihm nichts Besseres passieren, als wieder irgendwo stecken zu bleiben. Kein Wunder. Denn Haab gehört zu den Entwicklern des Mercedes Drive Pilot und kommt mit seiner Arbeit nur im Stau so richtig voran. Wenn ihm die Behörden im August ihren Segen geben und er bald die letzten Testkilometer eingesammelt hat, soll der Drive Pilot solchen Szenarien den Schrecken nehmen und die S-Klasse zum ersten Serienmodell machen, das autonomes Fahren nach dem Level 3 bietet. Da kann der Fahrer zwar noch nicht schlafen oder gar aussteigen. Doch anders als bei allen aktuellen Abstandstempomaten und Spurhalteassistenten gibt es künftig kein zeitliches Limit mehr für den Einsatz der Elektronik und dafür deutlich mehr Freiheit für den Fahrer. Zwar soll der Verkauf zu einem hohen vierstelligen Preis erst im Herbst beginnen, doch ist Haab mit dem Stand der Technik schon so zufrieden, dass er mich als weltweit ersten Journalisten auf öffentlichen Straßen hinter das Steuer lässt und gleich in den ersten Stau lotst.
Sobald dort der Verkehrsfluss stockt und das Tempo unter 60 fällt, blinken zwei Tasten im Lenkrad der S-Klasse und mit einem Druck übergebe ich das Kommando. Kurz flackert es noch, dann leuchtet es Türkis, im Display davor erscheint ein „A“ wie autonom und der Drive Pilot hat das Sagen. Statt zu lenken und auf den Verkehr zu achten, lege ich die Hände in den Schoß und als nach 20, 30 Sekunden noch immer kein Warnton kommt, der mich aus der Ruhe reißt, schaue ich auf den Monitor in der Mittelkonsole, scrolle durch die Menüs und kann ungestört den TV-Nachrichten folgen oder im Internet stöbern. Selbst der Griff zum Handy ist plötzlich erlaubt, ohne dass ich Punkte riskiere. Natürlich komme ich damit auch nicht schneller durch den Stau. Aber ich kann die Zeit sinnvoller nutzen und bin am Ende auf jeden Fall entspannter und freue mich deshalb über Freizeit und Freiheit bei nervtötenden Fahrten. Und Gelegenheit dazu gibt es auf den chronisch überlasteten Autobahnen rund um die Metropolen mehr als genug.
Damit geht Mercedes einen Schritt weiter als die Autobahn-Assistenten, die man heute schon bis hinunter in die Kompaktklasse kaufen kann. Die können zwar in der Theorie fast alle das gleiche, sind aber nicht so schlau und nicht so sicher. Deshalb übernimmt der Hersteller dort keine Haftung, spricht von einem Assistenzsystem zur Entlastung des Fahrers und schlägt schon nach wenigen Sekunden Alarm, wenn der Fahrer die Hände zu lange in den Schoß legt. Mercedes dagegen steht in einer relativ klar definierten Stausituation voll für das System und seine Sicherheit ein, und erteilt der Kundschaft damit zum ersten Mal eine Steuerbefreiung.
Für Entwickler wie Haab ist diese Form des autonomen Fahrens, das unter den Experten als „Level 3“ klassifiziert wird, nichts neues. Sondern schon seit Jahren sind die Ingenieure fast aller Autohersteller auf mittlerweile jedem denkbaren Straßentyp mit dem Autopiloten unterwegs. Neu ist der Umstand, dass diese Technik nun auch in Kundenhand kommt und der Gesetzgeber das seit Mai dieses Jahres endlich auch erlaubt – und Deutschland damit in die Pole Position bringt. Denn selbst im ach so fortschrittlichen Kalifornien gibt’s dafür nur eine Ausnahmegenehmigung für Entwickler; von China ganz zu schweigen.
Unbeschränkt ist die neue Freiheit freilich nicht. Sondern weil Mercedes diesmal die Verantwortung übernimmt, sind die Schwaben ziemlich vorsichtig: Bei Nacht und Nebel, ja sogar bei Nieselregen quittiert der Drive Pilot deshalb genauso den Dienst wie bei Temperaturen nahe des Gefrierpunktes, in Baustellen oder Tunnels. Und weil der Fahrer im Zweifelsfall mit einer Vorlaufzeit von maximal zehn Sekunden Vorwarnung wieder übernehmen muss, kontrolliert eine Kamera ständig seine Einsatzbereitschaft. Surfen oder Schwatzen ist erlaubt, schlafen ist aber genauso verboten wie dauerhafter Blickkontakt mit den Hinterbänklern.
Dabei funktioniert der Drive Pilot bei dieser ersten Testfahrt so reibungslos, dass man sich schnell dran gewöhnt. Nach den ersten drei vier Einsätzen genügt ein Knopfdruck, dann habe ich ihn nach wenigen Sekunden vergessen und verstricke mich wie selbstverständlich in ein intensives Gespräch samt Blickkontakt mit dem Beifahrer. Während ich mit Haab über die nächsten Entwicklungsschritte oder die Chance von Robo-Taxen ganz ohne Fahrer philosophiere und nebenbei noch mein Facebook-Profil prüfe, läuft das Steuergerät hinten links im Kofferraum zu Höchstform auf. Mit mehr Rechenleistung als alle Chips der alten S-Klasse zusammen analysiert und fusioniert es die Informationen von 12 Ultraschallsensoren an Front, Flanken und Heck, vier Kameras in den Spiegeln, die Stereo-Kamera in der Front und eine weitere Kamera in der Heckscheibe, einem halben Dutzend Radaren, einer hoch empfindliche GPS-Antenne sowie der sündhaft teuren Lidar im Grill und steuert den Luxusliner feinfühlig und flüssig durch den zähen Verkehr. Und sobald das Tempo unter 30 fällt, schwenkt die S-Klasse sogar ein wenig zum richtigen Rand und bildet schon mal eine Rettungsgasse. Dafür berechnet die Blackbox im Heck 100 Mal pro Sekunde, spielt der Rechner mindestens 20 mögliche Routen und behält selbst die unwahrscheinlichsten Eventualitäten im Blick. Nicht nur, wenn von hinten Blaulicht naht oder ein Pannenfahrzeug in die Spur ragt, sondern auch wenn auf der Autobahn plötzlich ein Radler auftauchen oder jemand Steine von einer Brücke werfen sollte, meldet sich der Drive Pilot wieder ab. In der Regel mit zehn Sekunden Vorlauf und einer Kaskade von Warnhinweisen ruft er mich dann zurück ins Hier und Heute, und sobald ich mich sortiert und die Situation erfasst habe, drücke ich einen der beiden Knöpfe im Lenkkranz und bin wieder Herr der Lage – bis die Situation gemeistert ist und mir die Elektronik erneut die Rücknahme anbietet. Das ist eine Arbeitsteilung, mit der ich leben kann.
Zwar wissen die Mercedes-Manager selbst am besten, dass Tempo 60, der Stau und die Autobahn nur der Anfang sein können und hoffen bald auf noch mehr Steuerbefreiung. Nicht umsonst sei im Gesetz bereits der Pfad für bis zu 130 km/h vorgezeichnet, sagt Haab. Denn je mehr man sich am Drive Pilot freut, desto größer ist der Frust, wenn er eben nicht eingesetzt werden kann.
Doch schon heute sind die Bedingungen für seinen Einsatz viel zu oft erreicht: Denn trotz Pandemie-Pause und Corona-Lockdown hätte das System nach der ADAC-Staustatistik allein im letzten Jahr 513.500 mal funktioniert und während 256.000 Stunden die Arbeit machen können. Das ist eine Zeit, mit der man wahrlich etwas besseres anfangen kann, als auf die Rückleuchten seines Vordermannes zu starren.
Und die anderen Autofahrer profitieren sogar auch, sind Verkehrswissenschaftler überzeugt: Weil die meisten Staus durch menschliche Fehler wie zu dichtes Auffahren und danach zu heftiges Bremsen sowie das leidige Hüpfen zwischen den Spuren entstehen, können schon ein paar autonome Autos den Verkehrsfluss deutlich verbessern. Für Männer wie Mercedes-Entwickler Haab ist das Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, weil die ersten Kunden ihren Drive Pilot deshalb oft erleben werden. Und ein Fluch, weil sich das System damit irgendwann selbst überflüssig macht. Denn je mehr Autos autonom unterwegs sind, desto weniger Staus wird es geben. Angst um ihre Jobs müssen die Entwickler deshalb aber nicht haben. Denn bis das soweit ist, haben sie mit der Freigabe für Bundes- und Landstraßen oder dem Einsatz bei Nacht und Nebel noch mehr als genug zu tun. Vielleicht ist es deshalb also doch kein Schaden, dass sich der Stau auf der A40 so langsam wieder auflöst. Und außerdem gibt es ja schlimmeres, als in einer S-Klasse selbst ins Steuer zu greifen.