Zeitreise in Vegas
Eine Fahrt im Mercedes Urbanetic
Wenn es Nacht wird in Las Vegas, dann kann man mit der Realität schon mal über Kreuz geraten. Nicht jeder, der einen Rock trägt, ist unbedingt eine Frau. Und nicht alle Frauen tragen Röcke. Auch wenn das Glück an den Spieltischen zum Greifen nah ist, gibt sich Fortuna nur selten die Ehre und nur weil man plötzlich den Eifelturm vor der Nase hat, ist man noch lange nicht in Paris. Selbst auf der Straße kann man seinen Augen nicht trauen, zumindest nicht während der CES. Denn dann ist es so, als hätte die PS-Branche mal eben ein paar Jahre vorgespult und der legendäre „Strip“ wird zum Laufsteg für die Technik der Zukunft. In dieser Nacht ist es der Mercedes Urbanetic, der die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit sprengt und die Nachtschwärmer in die Zukunft des öffentlichen Individualverkehrs entführt.Von Thomas Geiger
Gut drei Monate nach der Weltpremiere auf der Nutzfahrzeug-IAA in Hannover surrt er elektrisch über die sechsspurige Casino-Magistrale und stielt dabei all den vielen Stretchlimousinen genauso die Schau wie den wenigen Bussen und den zahllosen Taxen, die sich selbst morgens um zwei oft nur im Schritttempo am Caesar’s Palace oder dem Venetian vorbei schieben. Und das tut er nicht allein mit seinem auffälligen Design, das ein bisschen nach Zäpfchen auf Rädern aussieht und zugleich an die Architektur Zarah Hadids erinnert. Sondern vor allem mit seiner Technik: Wer den Urbanetic mit der entsprechenden App bucht, der wird an Ort und Stelle abgeholt und traut spätestens dann nicht mehr seinen Augen, wenn sich die Türen öffnen. Denn außer vielleicht ein paar anderen Fahrgästen ist in diesem Bus sonst niemand an Bord, erst recht kein Fahrer. Sondern Lenkrad und Pedale sucht man vergebens und dort, wo bislang der Chauffeur gesessen hat, ist jetzt eine bequeme Bank montiert, auf der drei Passagier Platz lümmeln können – um die Auffassungsgabe nicht ganz überzustrapazieren. Dazu gibt es fünf wie in der Sauna nach oben gestaffelte Sitzplätze auf noch bequemeren Lederstufen gegenüber und in der Mitte vier Stehplätze für die Passagiere, die nur kurz an Bord bleiben.
Doch so staunend man vor der offenen Schiebetür steht, wenn man nicht laufen will, sollte man irgendwann einbsteigen und sich auf das Abenteuer Zukunft einlassen. Das erweist sich dabei in dieser Nacht als spektakulär unspektakulär. Denn erstens fährt der Urbantic so langsam, dass selbst der Gesetzgeber aufs Anschnallen verzichtet, zweitens geht es auf dem Strip die meiste Zeit gerade aus und die anderen Autofahrer halten ehrfürchtig Abstand von diesem Raumschiff auf Rädern, und drittens ist man vom Bus ja ohnehin ein vergleichsweise autonomes Fahren gewöhnt. Schließlich liefert man sich dort ja ebenfalls einer fremden Intelligenz aus – egal ob die nun menschlicher Natur ist oder künstlich erzeugt wird. Und das Schild „Bitte nicht mit dem Wagenführer sprechen“ prangt ja nicht umsonst über jedem Fahrersitz im öffentlichen Nahverkehr.
Zwar passt das silberne Zäpfchen perfekt auf den Strip, weil es auffällt und alle Blicke auf sich zieht, weil es ein wirksames Mittel gegen den Dauerstau auf der Flaniermeile sein könnte und weil hier die ganze Nacht so viel los ist, dass es wahrscheinlich rund um die Uhr genügend Passagiere gäbe für das Robo-Shuttle. Doch eine Eigenschaft des Urbanetic bleibt dabei auf der Strecke. Schließlich ist das Designerstück nicht nur ein autonomer Kleinbus, sondern mehrere Fahrzeuge in einem. Sobald die Nachfrage für den Personentransport abebbt, rollt der Mercedes für morgen an eine Wechselstation und lässt binnen weniger Minuten den Aufbau tauschen. Nicht umsonst haben die Schwaben die gesamte Technik für den Antrieb und das autonome Fahren in die wie ein Skateboard konstruierte Bodengruppe integriert. Eben noch Kleinbus mit futuristischer Kabine wird der Urbanetic so zum Kastenwagen im Rimowa-Design, der autonom Päckchen verteilt oder neue Ware in die Läden bringt. So will Mercedes seinen Kunden mehr Effizienz bieten, weil sie das Auto dann 24 Stunden am Tag nutzen können, und zugleich die Anzahl der Fahrzeuge auf den Straßen reduzieren. In der Theorie ist das eine gute Idee, in der Praxis allerdings ist sie zum Scheitern verurteilt. Zumindest in Las Vegas. Denn dort ist Tag und Nacht so viel Fußvolk auf der Straße, dass die Päckchen auf ewig liegen bleiben würden. Aber Mercedes denkt ja auch nicht nur an Las Vegas, sondern auch an Leipzig oder London – spätestens, wenn neben den Ingenieuren auch die Behörden soweit sind, dass sich die Robo-Shuttle in die Realität trauen dürfen. Und zwar nicht nur, wenn es Nacht wird in Las Vegas.