Mercedes ringt um die Deutungshoheit in der Luxusliga und bringt sich nun auch auf der Electric Avenue entsprechend in Stellung. Denn als stilsichere Antwort auf das Model S von Tesla und den Porsche Taycan bereiten die Schwaben gerade den Start eines Stromers im Smoking vor. Bis der tatsächlich auf der Straße ist, wird es zwar noch knappe zwei Jahre dauern. Doch um am Ball und vor allem im Gespräch zu bleiben, geben sie jetzt auf der IAA mit der Vision EQS einen ersten Ausblick auf dieses Flaggschiff für Captain Future.
Von Thomas Geiger
Mehr als fünf Meter lang und in Bausch und Bogen gezeichnet, lässt dieser Luxusliner die aktuelle S-Klasse alt und behäbig aussehen. Das liegt nicht nur am so genannten „Bow Design“, das die stufige Silhouette der klassischen Limousine auflöst und von extrem schräg gestellten, weit nach außen gerückten Scheiben lebt. Sondern das liegt auch an der spektakulären Licht-Inszenierung, die einmal um das komplette, in zwei Farben lackierte Auto reicht. So gibt es zu den Hologramm-Scheinwerfern einen digitalen Kühlergrill mit LED-Matrix, ein Heckleuchtenband, in dem 229 digitale Mercedes-Sterne strahlen und an den Flanken weitere LED-Leisten, die das Auto in Szene setzen und die Kommunikation mit andern Verkehrsteilnehmern übernehmen.
Auch innen zeigt sich der Luxusliner von Morgen in einem buchstäblich neuen Licht: Die Ambientebeleuchtung schließt nun auch die Kontouren der vier ledernen Loungesessel ein und statt eines konventionellen Cockpits wird aus dem Armaturenbrett in den Worten der Designer eine Interieur-Skulptur, für die Instrumententafel und Mittelkonsole zu einem großen Schwebebalken vor der ersten Reihe verschmelzen und dabei an das Deck eines Bootes erinnern sollen. Informationen werden dann nicht mehr auf konventionellen Bildschirmen dargestellt, sondern dank organischer Displays und variabler Projektionsflächen sollen Material und Informationen förmlich verschmelzen. Und damit die Besserverdiener in ihrer Luxuslounge kein schlechtes Gewissen plagt, gibt es nachhaltiges Materialkonzept mit Holz aus heimischen Wäldern, Dekorstoffen aus maritimem Plastikmüll, artifiziellem Leder und Mikrofasern aus recycelten PET-Flaschen.
Während die Designer am großen Rad drehen und ihrer Phantasie freien Lauf lassen, ist die Technik unter der spektakulären Hülle vergleichsweise bodenständig – aber dafür konsequent. Denn nachdem Mercedes bislang nur konventionelle Plattformen umgerüstet hat, leisten sich die Schwaben zum ersten Mal eine dezidierte Elektroarchitektur und können alle Packaging-Vorteile nutzen: Die Überhänge werden kürzer und der Innenraum bietet entsprechend mehr Platz und anders als der EQ C hat der Vision EQS auch keinen Hängebauch mehr, sondern der Akku verschwindet tatsächlich komplett im Wagenboden. Dabei ist er größer denn je. Denn um adäquate Fahrleistungen zu bieten, wird bei Mercedes mal wieder geklotzt statt gekleckert. 100 kWh soll die Batterie mindestens haben, stellen die Entwickler in Aussicht und versprechen eine Reichweite von über 700 Kilometern. Und weil theoretisch mit 350 kW geladen wird, sind die Zellen binnen weniger als 20 Minuten zu 80 Prozent voll. So schnell wie beim Laden ist die Vision EQS auch beim Fahren: Mit knapp 500 PS und bald 800 Nm beschleunigt der voll variable Allradantrieb in weniger als 4,5 Sekunden auf Tempo 100 und erlaubt mehr als 200 km/h.
So durchdacht und zukunftsträchtig das Konzept auch sein mag, hat es allerdings ein Problem: Parallel zum elektrischen Luxusliner entwickelt Mercedes gerade auch eine neue S-Klasse aus der alten Welt. Zwar predigen die Schwaben im vorauseilenden Gehorsam eine friedliche Koexistenz der beiden Topmodelle und denken dabei an zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen mit nur geringer Überschneidung. Doch wenn die neue S-Klasse wie das bisherige Flaggschiff als „bestes Auto der Welt“ antreten will, dann hat der EQS ein Problem. Denn an der Spitze kann es nur einen geben.