Gut Ding will Weile haben – und wenn es richtig gut werden soll, dann darf diese Weile auch mal 123 Jahre währen. So lange jedenfalls hat es gedauert, bis Rolls-Royce endlich die Prophezeiung des Firmengründers Charles Rolls aus dem Jahr 1900 erfüllt und den Elektromotor zum ultimativen Luxusantrieb geadelt hat. Denn wenn die britische BMW-Tochter im Herbst zu ganz und gar unbescheidenen Preisen von 390.000 Euro steil aufwärts den Spectre an den Start bringt, ist das nicht nur das erste Stromer der Marke und das aktuell edelste Elektroauto der Welt, sondern vielleicht sogar das beste Auto überhaupt. Selbst der selige Zwölfzylinder ist vergessen, wenn das Coupé von stattlichen 5,50 Metern erst einmal Fahrt aufnimmt. Und bisherige Vorzeigefahrzeuge wie ein Mercedes EQS, ein Lucid Air oder ein Tesla Model S wirken plötzlich wie schlichte Kleinwagen.
Nüchtern betrachtet ist der Spectre dabei nicht viel mehr als ein i7 im Smoking – schließlich hat sich die feine Tochter aus Goodwood für ihren elektrischen Erstling vom 102 kWh großen Akku über die beiden E-Maschinen mit vorne 260 und hinten 490 PS bis hin zur Allradlenkung im Baukasten der Mutter bedient. Doch wo der BMW bei aller Finesse und Dynamik kühl wirkt und ein wenig distanziert, hat die E-Mobilität im Schatten der Spirit of Exctasy etwas derart Selbstverständliches und Seelenvolles, dass selbst der bis dato obligatorische V12-Motor pötzlich seltsam deplatziert erscheint.
Natürlich war und ist der Zwölfzylinder die kultivierteste aller Verbrennungskraftmaschinen und mit seinen 675 Litern Hubraum ein unerreichter Souverän. Aber gegen das sanfte Schnurren des Stromers wirkt er plötzlich laut und ungehobelt. Und so samten und seidig er einen Phantom auch antreiben mag, kommt er an den geisterhaften Sprint des Spectre nicht einmal ansatzweise heran – nicht umsonst haben die Briten das Anfahrdrehmoment sogar gedrosselt, damit der Champagner hinten nicht aus den Kelchen schwappt. Nie hat sich Mühelosigkeit tatsächlich so wenig bemüht angefühlt wie hier – und dass, obwohl der Spectre stolze 2,9 Tonnen wiegt. Aber selbst die schmelzen dahin, wenn 585 PS und 900 Nm zu Werke gehen und die Kabine von einem adaptiven Fahrwerk mit Vorausschau und Wankausgleich in Watte gepackt und auf Wolken gebettet wird. Wer es wirklich eilig hat, der kommt deshalb in 4,5 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 und fliegt wenig später mit 250 Sachen über die linke Spur und erkennt trotzdem nur an der vor den Fenstern verwischenden Landschaft, dass er tatsächlich fährt.
Wie früher über die Leistung, verliert dabei heute über die Reichweite niemand mehr ein Wort und „ausreichend“ gilt als hinreichende Beschreibung. Dabei sind 500 Kilometer im Normzyklus und vielleicht 350 im Alltag für ein Auto dieses Formats durchaus vorzeigbar. Doch weiter als von der Villa ins Büro muss ein Rolls-Royce in der Regel gar nicht fahren – oder zum Flughafen. Denn für Distanzen im dreistelligen Bereich bevorzugt die Klientel gemeinhin den Hubschrauber oder den Privatjet. Und dass der Spectre mit 195 kW laden kann, interessiert ebenfalls die wenigsten. Denn ein Zwischenstopp am Schnelllader vor dem Supermarkt ist für den gemeinen Superreichen schwer vorstellbar. Vielmehr freuen sich die High Society jetzt an der Wallbox daheim und daran, dass so profane Orte wie eine Tankstelle für sie nun endgültig Geschichte sind.
Dass der E-Antrieb so gut zum Spectre passt, hat aber neben seiner schieren Leistung und seiner unerreichten Laufkultur noch einen weiteren Grund: Das Coupé will zuallererst mal ein Rolls-Royce sein und erst dann ein Elektroauto. Verzicht verbietet sich da von selbst und Nachhaltigkeit wird Nachrangig. Deshalb gibt es weder veganes Leder oder Kunststoffe aus Fischernetzen, noch haben die Briten sonst irgendwo gespart, sondern im Gegenteil noch dicker aufgetragen als bisher. Die Farbpalette ist mutiger als je zuvor, die Teppiche tiefer, das Leder dicker und die Liste der Optionen länger – so funkelt der Sternenhimmel nun nicht nur im Dach, sondern auf Wunsch erstmals auch in den Türen, die übrigens die größten sind, die Rolls-Royce je eingebaut hat. Und wo andere um jedes Gramm ringen, sind die Türgriffe hier schwer und massiv wie an den Toren zum Tower of London und die Luftausströmer der Klimaanlage natürlich wieder aus dem Vollen gefräst.
Nach über 100 Jahren Vorlauf, vier Jahren Entwicklungszeit und mehr als zwei Millionen Testkilometern fühlt sich der Spectre derart nach Rolls-Royce an, dass sich jede Frage nach dem Antrieb erübrigt. Und wenn die Sprache tatsächlich mal auf die E-Motoren kommt, dann weinen selbst eingefleischte Petrolheads dem seligen V12 nicht die kleinste Träne nach.
Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Briten extrem gründlich waren bei der Entwicklung. Sie haben deshalb nicht einfach einen i7 in einen Smoking gesteckt oder eine Batterie in den Phantom gebaut, sondern sich mit dem Spectre mal eben neu erfunden. Im Großen, aber eben auch im Kleinen – von der frischen Grafik für den digitalen Tacho samt funkelndem Sternenstaub bei der jeweils angezeigten Geschwindigkeit bis hin zur Spirit of Ecstasy, die ihren eigenen Beitrag zur Antriebswende leisten muss. Nicht, dass es in diesem Auto wirklich auf Reichweite ankäme. Doch um den cW-Wert auf die geplanten 0,25 zu drücken, musste selbst die Kühlerfigur in den Windkanal und hat in vielen hundert Stunden Feinschliff ein Facelift bekommen – ein Aufwand, den sich nur eine Marke wie Rolls-Royce leisten kann. Erst recht, wenn sie sich zwischen Idee und Umsetzung 123 Jahre Zeit lässt.