Der ID.3 war nur das Vorspiel. Denn so wichtig der „Golf der neuen Zeit“ als Leuchtturm der elektrischen Absichten in Wolfsburg auch sein mag, ist er ein rein europäisches Phänomen und in großen Ganzen deshalb nur eine kleine Nummer. Doch wenn VW jetzt nur wenige Wochen später den ID.4 nachschiebt, dann machen die Niedersachsen ernst mit der Mobilisierung der Massen.
Von Thomas Geiger
Denn als halbwegs kompaktes SUV aus den Modularen Elektrifizierungsbaukasten MEB bedient er lange Fünfsitzer nicht nur das wachstumsstärkste Segment im globalen Geschäft. Sondern mit der Stammproduktion in Zwickau, zwei Werken in China und einem in den USA wird er zudem zum ersten MEB-Auto für die ganze Welt. Und wenn man sich anschaut, wie deutlich der Tiguan beim Absatz mittlerweile den Golf überholt hat, dann bestehen an der Führungsrolle des ID.4 kaum mehr Zweifel – selbst wenn er rund 7.000 Euro teurer ist als ein ID.3 und deshalb bei rund 37.000 Euro (D) starten wird.
Dafür gibt es einen knapp 4,60 Meter langen Fünfsitzer, der bei identischem Radstand von 2,77 Metern deutlich mehr Platz bietet als der ohnehin schon geräumige ID.3. Nicht nur der deutlich längere Tiguan Allspace kann sich vor allem von der Beinfreiheit im Fond etwas abschneiden und bei knapp 600 Litern Kofferraum nur mühsam ein paar Punkte machen. Sondern auch das Tesla Model Y, das ja nur ein paar hundert Kilometer nördlich des ID.4 in Grünheide vom Band laufen soll, sieht plötzlich nicht mehr ganz so gut aus: Es mag neben dem für VW ungewöhnlich organisch, fast schwülstig gezeichneten ID.4 zwar lean und clean wirken, und die Coolness im radikal reduzierten Cockpit ist unerreicht. Doch obwohl noch eine Handbreit länger als der ID.4 und sogar als Siebensitzer angekündigt, fehlen den Amerikanern zum VW innen sechs Zentimeter, sagen die Entwickler stolz. Und wo beim ID.3 die Materialauswahl vor allem im Fond so knauserig ist, dass selbst ein Tesla nobel wirkt, hat VW beim ID.4 kräftig nachgelegt, mehr Softtouchlacke verstrichen und reichlich Zierrat installiert.
Dafür muss sich der ID.4 in den eigenen Reihen an Platz zwei einsortieren. Denn wie immer stiehlt die Tochter Skoda der Mutter VW die Schau. Die durften ihren Enyaq nicht nur bereits enthüllen, während VW das Tuch erst Ende September lüftet, sondern sie haben auf der gleichen Plattform auch mal wieder das größer Auto gebaut, für das sie auch noch weniger Geld verlangen. Und zumindest in den Augen vieler Betrachter sieht der Enyaq obendrein noch frischer und andersartiger aus als der ID.4.
Doch mit dem „Anderssein“ war VW bewusst sehr vorsichtig. Denn die Niedersachsen wollen, nein müssen Masse machen und deshalb viele Kunden aus der alten Welt in die neue Zeit holen. Und die sind bei VW etwas konservativer als anderswo. Weil da schon das digitalisierte Interieur mit dem winzigen Bildschirm hinter dem Lenkrad, dem großen Touchscreen daneben und dem Gangknubbel dazwischen eine arge Transferleistung erfordert, ist weder das Design besonders avantgardistisch, noch unterscheidet sich das Fahrverhalten groß von einem konventionellen SUV. Klar ist der ID.4 ein bisschen schwerer als Tiguan & Co, weil die Akkus im Wagenboden kräftig aufs Gewicht drücken. Doch dafür hat er auch den spontanen Antrieb des E-Motors, und was ihm in Kurven an Elan fehlen mag, machen die Progessivlenkung und das adaptive Fahrwerk locker wett. Ganz entspannt durch die Stadt oder über die Bundesstraße und ein bisschen engagierter auf einer Landpartie – genau wie Tiguan & Co kann auch der ID.4 beides. Und wenn sein muss, dann reicht seine Bodenfreiheit trotz der Batterie im Bauch auch für einen Abstecher ins Abseits. Die Feldwege und Schotterpisten auf dem VW-Testgelände jedenfalls sind für die Prototypen kein Hindernis. Umstellen müssen sich dagegen versierte E-Fahrer. Denn aus Respekt vor den alten Gewohnheiten der Verbrenner-Fahrer hält sich der ID.4 beim Rekuperieren deutlich zurück. Selbst wer den Wählhebel auf B stellt, braucht deshalb sehr, sehr viel Weitblick für das bei Stromern ach so populäre One-Pedal-Fahren.
Aber so richtig wichtig ist die Energie-Rückgewinnung auch nicht. Schließlich stecken im Bauch vergleichsweise große Batterien. Schon das Einstiegsmodell fährt mit netto 52 kWh und kommt so auf eine WLPT-Reichweite von 350 Kilometern. Wer weiter oben zuschlägt in der Modellhierarchie, der bekommt 77 kWh und kann mit knapp 520 Kilometern kalkulieren. Geladen wird dabei je nach Batterie mit bis zu 100 oder 125 kW, so dass die ersten 80 Prozent des Akkus im besten Fall in weniger als 45 Minuten wieder befüllt sind.
Auch beim Antrieb bietet VW überraschend viel Auswahl: Zum Start gibt’s den ID.4 mit nur einem Motor im Heck, der per Software in vier Stufen zwischen 109 und 150 kW kalibriert wird. Im besten Fall reicht das für einen Sprint von 0 auf 100 in 8,5 Sekunden und immer für ein Spitzentempo von 160 km/h. Nächstes Jahr bringt VW dann noch ein Top-Modell und spendiert ihm eine zweite Maschine mit 75 kW im Bug. Dann klettert die Systemleistung nach alter Währung auf mehr als 300 PS, es gibt standesgemäßen Allradantrieb und das Spitzentempo wird auf etwa 180 km/h angehoben.
Zwar wirkt der ID.4 in vielerlei Hinsicht etwas ausgegorener und aussichtsreicher als der ID.3 und der Wagen ist mit den großen Hoffnungen und dem immensen Druck sichtlich gewachsen. Doch ein Problem hat VW noch nicht gelöst: Genau wie beim ID.3 ist die Software zur Markteinführung nicht vollständig und ein paar Funktionen wie die Augmented Reality fürs Head-Up-Display gibt es erst später als kostenloses Update.
Aber die europäischen Kunden kennen das ja schon. Und für den Rest der Welt kommt das Auto so spät, dass die Programmierer bis dahin fertig sein sollten.