„Electric first“ hat Daimler-Chef Ola Källenius im letzten Jahr versprochen, und Männer wie Christoph Starzynski müssen diesen großen Worten jetzt Taten folgen lassen und dafür eifrig Kilometer schrubben. Denn während sich seine Kollegen mit der neuen E-Klasse noch ein Jahr Zeit lassen dürfen, legt der Chefingenieur der elektrischen Oberklasse-Familie bei Mercedes deshalb schon jetzt letzte Hand an den neuen EQE und gibt den Prototypen rund ums Entwicklungszentrum in Sindelfingen den letzten Schliff. Technisch eng verwandt mit dem EQS, aber eher zugeschnitten auf den Filialleiter als den Firmenchef und deshalb nicht ganz so elitär, soll er noch im Sommer zu Schätzpreisen jenseits von 70.000 Euro an den Start gehen und als erster die Lücke schließen, die bei der Konkurrenz zwischen Model 3 und Model S, zwischen i4 und iX oder ID.4 und e-tron GT klafft. Denn bis bei Audi ein elektrischer A6 auf der gemeinsam mit Porsche entwickelten PPE-Plattform kommt, wird es wohl noch zwei Jahre dauern, und für einen i5 gibt’s bei BMW allenfalls eine lose Absichtserklärung.
Während der EQS eine echte S-Klasse für die Generation E sein will und nach den gleichen Werten strebt, hatte Starzynski für den EQE ein etwas progressiveres Profil im Sinn. „Wir wollten das engagiertere, handlichere Auto bauen und dem Fahrer entsprechend mehr Spaß bieten.“ Der EQE soll sich deshalb nicht nur schneidiger fahren als der EQS, sondern auch die E-Klasse ausstechen. Und bis auf die Höchstgeschwindigkeit, die wie bei allen elektrischen Mercedes-Modellen weit diesseits der üblichen 250 km/h gekappt wird, klappt das offenbar schon ganz gut.
Nicht umsonst chauffiert der Chefingenieur seinen mit Hinterachslenkung und Luftfederung ausgestatteten Prototypen bevorzugt über Straßen dritter und vierter Ordnung, auf denen der Verkehr dünn ist und die Kurven dafür um so enger. Mit flinken Händen führt er den EQE eng an der Ideallinie, erlaubt sich ein paar kurze Kickdowns und stellt den Vielfahrern im Firmenauftrag ein bisschen mehr Temperament für den täglichen Termindruck in Aussicht. Und wer zu den Kilometerfressern gehört, der kann mit der Limousine auf der Langstrecke auch wunderbar entspannen, so leise und lässig wie sie über die linke Spur fliegt. Nur auf die Hilfe des Drive Pilot darf man dabei nicht bauen: Bei aller technischen Nähe zum EQS bleibt das erste autonome Assistenzsystem nach Level 3 erst einmal dem Flaggschiff vorbehalten.
Während Starzynski bei seinen engagierten Entwicklungsfahrten auf den Nebenstraßen im Sindelfinger Hinterland von einem Auto schwärmt, das sich eher nach C-Klasse anfühlt als nach E-Klasse, sehen vor allem die Hinterbänkler den EQE mit einer ganz anderen Brille: Weil der Vorbau kürzer und der Radstand größer ist als bei der konventionellen E-Klasse und der Innenraum so um insgesamt acht Zentimeter wächst, genießen sie im Fond deutlich mehr Freiheiten und wähnen sich in der bis dato den Chinesen vorbehaltenen Langversion – selbst wenn sich der EQE Extravaganzen wie Massagesitze oder ein aufwändiges Rearseat-Infotainment-System verkneift. Aber das gibt es ja im EQS fürs Erste auch nicht. Was dem EQE zum großen Bruder neben rund zehn Zentimetern Radstand und etwa 30 Zentimetern Länge noch fehlt, das ist der riesige Laderaum. Nicht im Dach, sondern unter der Scheibe ist hier diesmal die Haube angeschlagen, so dass man mit Koffern deutlich besser fährt als mit Kisten und sich auf 430 Liter beschränken muss.
Ein bisschen Bescheidenheit ist auch beim Antrieb angebracht. Zumindest im Vergleich mit dem EQS. Weil die Plattform EVA2 beim kürzeren Radstand im 4,95 Meter langen EQE nur den kleineren der beide Akkus fasst, gibt es statt 108 kWh nutzbarer Kapazität nur 90 kWh. Und weil zugleich der cW-Wert des EQA etwas schlechter ist und das Gewicht nicht sehr viel besser, schrumpft die Reichweite auf 660 WLTP-Kilometer. Das sind zwar 120 weniger als im EQS, aber noch immer deutlich mehr als es die vielen elektrischen SUV bieten, mit denen die Business-Klasse aktuell unterwegs ist. Außerdem wird ja auch schnell wieder geladen: Dank einer Ladeleistung von 170 kW soll in 15 Minuten im besten Fall der Strom für 250 Kilometer fließen. Außerdem gibt es zumindest zum Start erstmal nur einen Motor. Denn beginnen will Mercedes die Auslieferung mit einem EQE 350, an dessen Hinterachse ein 215 kW-Triebwerk angeschlagen ist. Später folgen allerdings auch 4Matic-Modelle mit zusätzlichem Frontmotor und sicher auch ein AMG.
Zwar will Mercedes mit dem EQE vor allem Firmen- und Vielfahrer ansprechen und so möglichst viele traditionelle Käufer der E-Klasse auf die Electric Avenue locken. Doch eine besonders treue Kundengruppe lassen die Schwaben dabei im Stich: Anders als die E-Klasse, jahrzehntelang die Mutter aller Mietdroschen, wird es den EQE ab Werk nicht mehr als Taxi geben.