Bislang war er der uneingeschränkte Blickfang: Wo immer der Mercedes Vision EQS nach seiner IAA-Premiere im September aufgetaucht ist, galt dem elektrischen Luxusliner die ungeteilte Aufmerksamkeit. Doch so langsam muss sich Chefdesigner Gorden Wageners Traumschiff mit dem Platz in der zweite Reihe begnügen. Denn während das Schaustück weiter vor jede Kamera gezerrt wird, läuft sich im Hintergrund so langsam das Serienmodell warm und rückt seine stark getarnte Karosse bisweilen kess ins Bild: „Wartet nur, bald kommen wir auch“, lautet die unverhohlene Kampfansage an Autos wie das Tesla Model S und den Porsche Panamera, die zwar sportlicher geschnitten sind, aber sehr wohl im gleichen Teich fischen. Weil dieses „bald“ aber noch immer mindestens 12 Monate umfasst und die Schwaben vorher erstmal den Nachfolger der konventionellen S-Klasse vom Stapel lassen müssen, sind die amtlichen Infos zu den offiziellen Erlkönig-Fotos bis dato eher dürftig.
Von Thomas Geiger
Macht nichts! Schließlich hat Baureihenleiter Jörg Bartels ja genug über die Studie verraten – und es braucht nicht viel zu der Erkenntnis, dass sich Wunsch und Wirklichkeit zumindest außen ziemlich nahe sind: Auch das Serienmodell wird deshalb mehr als fünf Meter lang und ist in Bausch und Bogen gezeichnet: Der klassische Stufenschnitt der Limousinen wird aufgelöst und die S-Klasse sieht plötzlich ziemlich altbacken aus. Und selbst wenn es wohl weder die Hologramm-Scheinwerfer noch einen digitalen Kühlergrill mit LED-Matrix und wohl auch kein Heckleuchtenband mit 229 illuminierten Mercedes-Sternen geben wird, dürfte der EQS eine hübsche Lightshow abziehen.
Die Technik unter dem neuen Hut ist für Mercedes fast noch wichtiger: Denn nachdem Mercedes bislang nur konventionelle Plattformen umgerüstet hat, leisten sich die Schwaben zum ersten Mal eine dezidierte Elektroarchitektur und können alle Packaging-Vorteile nutzen: Die Überhänge werden kürzer und der Innenraum bietet entsprechend mehr Platz und anders als der EQ C hat der Vision EQS auch keinen Hängebauch mehr, sondern der Akku verschwindet tatsächlich komplett im Wagenboden. Dabei ist er größer denn je. Denn um adäquate Fahrleistungen zu bieten, wird bei Mercedes mal wieder geklotzt statt gekleckert. 100 kWh soll die Batterie mindestens haben, stellen die Entwickler in Aussicht und versprechen eine Reichweite von über 700 Kilometern. Und weil theoretisch mit 350 kW geladen wird, sind die Zellen binnen weniger als 20 Minuten zu 80 Prozent voll. So schnell wie beim Laden ist der Vision EQS auch beim Fahren: Mit knapp 500 PS und bald 800 Nm beschleunigt der voll variable Allradantrieb in weniger als 4,5 Sekunden auf Tempo 100 und erlaubt mehr als 200 km/h.
So durchdacht und zukunftsträchtig das Konzept auch sein mag, hat es allerdings ein Problem: Parallel zum elektrischen Luxusliner entwickelt Mercedes gerade auch eine neue S-Klasse aus der alten Welt. Deshalb haben die Schwaben den Start der beiden Modelle schon mal um neun Monate auseinandergezogen und lassen den EQS frühestens in einem guten Jahr von der Leine. Und natürlich predigt Baureihenleiter Bartels in vorauseilendem Gehorsam eine friedliche Koexistenz der beiden Topmodelle, denkt an zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen mit nur geringer Überschneidung und spricht lieber von Ergänzung als von Verdrängung, selbst wenn sie unterschiedliche Architekturen nutzen: „Das eine Auto hat das andere befruchtet und beide für sich alleine wären so nicht möglich gewesen“, spricht er wie ein Mantra. Doch entweder der EQS oder die S-Klasse haben ein Problem – denn an der Spitze kann es nur einen geben und nur eines der beiden Autos kann den Claim erfüllen, den das Mercedes-Flaggschiff für sich gerne in Anspruch nimmt: Das beste Auto der Welt.