Über der Electric Avenue geht ein neuer Fixstern auf. Denn wenn Mercedes diesen Sommer den EQS an den Start bringt, wollen sich die Schwaben an die Spitze der elektrischen Revolution setzen und nicht nur Porsche Taycan und Audi e-tron GT parieren, sondern endlich auch Tesla am Zeug flicken. Kein Wunder also, dass sie in Stuttgart nicht an Vorschusslorbeeren sparen und stolz vom Beginn einer neuen Ära sprechen.
Das liegt zum einen an der Rolle des EQS als elektrischem Flaggschiff und Technologieträger aus dem Niveau der S-Klasse. Aber es liegt vor allem am Konzept: Denn nachdem die Schwaben für ihren Erstling EQC und den darauffolgenden EQA als eher halbherzige Übernahmen aus der alten Welt reichlich Kritik einstecken mussten, bauen sie den EQS nun zum ersten Mal auf einer dezidierten Plattform mit der typischen Skateboard-Architektur, wie sie auch VW für den MEB und Tesla als Basis für Model S & Co gewählt hat.
Diese Electric Vehicle Architecture (EVA), auf der es bald auch eine elektrische Alternative zur E-Klasse sowie zwei große SUV mit Akku-Antrieb geben soll, ist flexibel in Radstand und Batteriegröße, kann mit einem Motor für reinen Heckantrieb oder zwei Motoren und Allrad-Traktion bestückt werden und arbeitet mit mindestens 700, wohl eher 800 Volt für maximale Ladeströme und minimale Standzeiten. Im EQS bedeutet das bei 5,21 Metern Länge stolze 3,21 Meter Radstand, eine Batteriekapazität von bis zu 107,8 kWh für eine WLTP-Reichweite von 770 Kilometern, über 385 kW oder für die ewig gestrigen bis zu 520 PS und an der Schnellladesäule nur 15 Minuten für 300 Kilometer.
Gekleidet ist EVA in eine Designer-Robe, die so ziemlich mit allem bricht, was man bislang in der Oberklasse kannte. Denn statt in einer traditionellen Stufe gezeichnet, fährt der EQS mit einem einzigen Bogen vor. Das sieht in der Serie zwar nicht ganz so elegant aus wie bei der Studie von 2019, weil das Dach höher und das Heck kürzer ist als beim Schaustück. Doch es fällt auf. Und vor allem bietet der EQS so dem Wind minimalen Widerstand: Nur 0,2 misst der cw-Wert und stempelt das elektrische Flaggschiff zum schnittigsten Auto in seinem Segment.
Angenehmer Nebeneffekt des unkonventionellen One-Bow-Designs: Während die Hinterbänkler vom riesigen Radstand und den kurzen Überhängen profitieren und bei der Länge der „kurzen“ S-Klasse mehr Beinfreiheit genießen als in der langen Version, freuen sich auch die Lademeister: Mit einer Kofferraumklappe bis ins Dach und einer umklappbaren Rückbank bietet der EQS zwischen 610 und 1.770 Liter Stauraum und wird so zum ersten Mitglied der S-Klasse-Familie, mit dem man sich auch an der Warenausgabe von Ikea blicken lassen kann. Dafür opfern die Schwaben dann auch bereitwillig den Frunk im Bug und nutzen den Platz lieber für einen raumgreifenden Hepa-Filter, mit dem sie den EQS-Fahrern die sauberste Luft versprechen, die es bis dato in einem Auto gegeben hat. Selbst Corona-Viren bleiben so angeblich draußen.
Auch wenn die – natürlich digitale – Weltpremiere noch aussteht, bittet Chefingenieur Christoph Starzynski schon zu einer ersten Mitfahrt rund um Stuttgart und sein Kollege Oliver Röcker zeigt stolz, was die Luxuslimousine alles draufhaut: Überraschend ist dabei weniger der spontane Antritt, der trotz 2,5 Tonnen und mehr einen Sprintwert unter fünf Sekunden ermöglicht und damit mühelos in AMG-Sphären vordringt. Sondern viel eher verwundert das Limit auf 210 km/h, das zwar viel ist für ein E-Auto, aber wenig für einen Mercedes mit dem S im Typenkürzel. Vor allem aber beeindruckt der EQS mit einem Maß an Fahrkultur, wie es bislang allenfalls die Maybach-Versionen der S-Klasse geboten haben. Wer erst einmal den künstlichen Raumschiff-Sound oder das imitierte V8-Grummeln deaktiviert hat, reist in absoluter Stille: Weil der Wind so wenig Widerstand findet und sämtliche Antriebskomponten noch einmal umschäumt wurden, wird man eher die Digitaluhr ticken hören, als dass ein Fahrgeräuch an die Ohren dringt. Und weil es natürlich serienmäßig eine Luftfederung gibt, wähnt man sich wie auf Wolken gebettet. So bekommt das Reisen eine neue Leichtigkeit.
Leicht will es Mercedes dem Fahrer mit einem intelligenten Rekuperationsprogramm machen, das auf schlaue Art zum Verzicht auf das Bremspedal erzieht. Denn mit den Sensoren der automatischen Abstandregelung und den Daten zum vorausliegenden Streckabschnitt nutzt der EQS die E-Maschine genau in so einem Maß als Generator und damit als Bremse, dass die mechanische Bremse weitgehend überflüssig wird. Und während der EQS sich für die Insassen nach einem riesigen Auto anfühlt, macht er sich für den Fahrer klein: „Wie in der S-Klasse haben wir die neue Hinterradlenkung verbaut und schlagen die Räder beim Rangieren um mehr als zehn Grad ein“, sagt Röcker und kreiselt mit dem Fünf-Meter-Auto durch die Stadt, als wäre es ein Kleinwagen.
Neben der absoluten Stille an Bord, der Seriosität und der Souveränität beeindruckt der EQS zudem mit seinem Ambiente. Denn mit dem neuen Hyperscreen stellen die Schwaben so ziemlich alles in den Schatten, was es bis dato an Infotainment gegeben hat: Der erste Blick auf die gebogene Glasfläche, die sich von Tür zu Tür spannt, ist mindestens so eindrucksvoll wie einst beim Debüt von MB UX in der vorletzten A-Klasse. Und wenn darunter die drei Bildschirme aufflammen, ist das ganz großes Kino. Das merkt man diesmal auch schon als Beifahrer. Denn selbst wenn einem der Blick in das von der S-Klasse bekannte XXL-Head-Up-Display mit Augmented Reality-Projektionen verwehrt bleibt, flimmert dafür jetzt vor den Knien ein eigener Bildschirm. Und es ist nicht die Größe der drei Screens allein und die Brillanz der Grafiken, mit denen der Hyperscreen beeindrucken will. Sondern um die Bedienung radikal zu vereinfachen und die Menüebenen zu reduzieren, bekommt das bekannte MB UX-System reichlich künstliche Intelligenz und eine wissbegierige Beobachtungsgabe: Mit jedem Kilometer lernt das System die Vorlieben, Gewohnheiten und Routinen von bis zu sieben Fahrern genauer kennen und schlägt je nach Anlass automatisch bestimmte Bedienschritte vor. Deshalb sind wie von Zauberhand immer genau jene Menüpunkte auf den Bildschirmen, die man gerade nutzen möchte, versprechen die Entwickler.
Fahrkomfort auf höchstem Niveau, dazu eine Interpretation von Luxus, die eher trendig ist als traditionell, die aktuell größte Batterie und mit ihr die beste Reichweite am Markt sowie obendrein ein Infotainment wie aus einer anderen Welt – so wird der EQS tatsächlich zum neuen Leitstern auf der Electric Avenue. Doch gleichzeitig verblasst damit ein anderer Fixstern, der den Schwaben jahrzehntelang den Weg an die Spitze gewiesen hat: Die S-Klasse. Selbst gerade erst erneuert und zurecht als bestes Auto der Welt gefeiert, wirkt sie je nach Sicht der Dinge plötzlich im besten Falle klassisch und im schlimmsten altmodisch und dürfte es zumindest in progressiven Märkten wie China oder den USA schwer haben, sich gegen den elektrischen Emporkömmling zu behaupten. Erst recht, wenn die Schwaben die gesamte S-Klasse-Klaviatur spielen und dem EQS auch wieder eine AMG- und eine Maybach-Variante zur Seite stellen.
Schwellenängste lässt Mercedes beim Umstieg in die neue Zeit gar nicht erst aufkommen. Nicht nur der überraschend niedrige Grundpreis von weniger als 100.000 Euro dürfte für die S-Klasse-Klientel keine allzu große Hürde sein. Sondern um auch Skeptikern selbst noch die letzten Zweifel zu nehmen, zeigt sich der EQS einladender als jeder andere Mercedes: Denn kaum nähert man sich der Limousine an, schwingen die großen Türen wie von Geisterhand automatisch auf und heißen die Kunden in der neuen Welt willkommen.