Mercedes EQS: S schreibt man jetzt mit E

Das Alphabet hat 26 Buchstaben, doch einer ist Ola Källenius besonders wichtig. Das S. Schließlich ist das in der Mercedes-Nomenklatur der Inbegriff für automobilen Luxus und prangt seit fast genau 50 Jahren an der erfolgreichsten Limousine der Welt: Der Mercedes S-Klasse. Doch jetzt öffnet der Daimler-Chef sein Schatzkästchen und gewährt diesen Buchstaben einem weiteren Auto – ab Herbst rollt zu Preisen, die erst später mit einem neuen Basismodell knapp unter 100.000 Euro beginnen werden, neben der S-Klasse der EQS und will die traditionellen Werte der Luxusklasse in die neue Zeit übertragen: “Der EQS wurde entwickelt, um selbst die Erwartungen unserer anspruchsvollsten Kunden zu übertreffen,“ sagt Källenius. Genau das muss ein Mercedes leisten, um sich den Buchstaben ‚S‘ im Namen zu verdienen. Denn diesen Buchstaben vergeben wir nicht leichtfertig.“

Dafür hat Mercedes nicht gekleckert, sondern geklotzt. Denn anders als EQC, EQA und EQB ist der EQS kein mehr oder minder halbherzig umgerüsteter Verbrenner mehr. Sondern analog zum Modularen E-Baukasten des VW-Konzerns, der PPE-Plattform von Audi und Porsche oder der E-GMP-Matrix von Hyundai und Kia hat nun auch Mercedes endlich eine eigene Architektur, die explizit um den E-Antrieb herum entwickelt wurde. Sie trägt das Kürzel EVA2 und steht für ein in allen wichtigen Dimensionen variables Skateboard mit einem flachen Akkupaket zwischen der hinten immer und vorne optional angetriebenen Achse, das in Zukunft mindestens vier Autos tragen wird. Denn im Windschatten des EQS fahren bereits ein EQE im Format der E-Klasse und zwei SUV für das jeweilige Segment über die Teststrecken.

Verpackt ist die Technik beim EQS in einem Design, das zumindest in der ansonsten erzkonservativen Oberklasse wirkt wie von einem anderen Stern und selbst ein Model S konventionell aussehen lässt. Denn eine einzige Linie hat Designchef Gorden Wagener gereicht, um die Plattform in Bausch und Bogen zu überspannen und mal eben das windschnittigste Serienauto der Welt auf die Räder zu stellen.

Angenehmer Nebeneffekt dieses Onebow-Designs mit der weit nach vorne gerückten Frontscheibe, dem schrägen Heck und den Achsen ganz weit außen in den Ecken: Es gibt deutlich mehr Platz – für die nach wie vor leicht erhöht untergebrachten Passagiere, die sich bei den Außenmaßen der kurzen S-Klasse (5,21 Meter) und dem Radstand der langen S-Klasse (3,21 Meter) fühlen wie sonst nur im Maybach. Und für das Gepäck. Denn weil die Heckklappe wie bei einem SUV im Dach angeschlagen ist, lässt sich der mit 610 Litern ohnehin schon stattliche Kofferraum auf bis zu 1.770 Liter erweitern und macht die elektrische S-Klasse zum perfekten Einkaufswagen für den Ikea-Besuch.

So fremd der EQS aussieht, so vertraut fühlt er sich bei der ersten Ausfahrt an. Schon nach wenigen Metern erlebt man dieses erhabene Gefühl vom luxuriösen Reisen ein, wie man es seit Jahrzehnten von der S-Klasse kennt. Nur moderner, cleaner, cooler. Überraschend ist dabei weniger der spontane Antritt, der trotz 2,5 Tonnen und mehr einen Sprintwert unter fünf Sekunden ermöglicht und damit mühelos in AMG-Sphären vordringt. Sondern vor allem beeindruckt der EQS mit einem Maß an Fahrkultur, wie es bislang allenfalls die Maybach-Versionen der S-Klasse geboten haben. Wer erst einmal den künstlichen Raumschiff-Sound oder das imitierte V8-Grummeln deaktiviert hat, reist in absoluter Stille: Weil der Wind so wenig Widerstand findet und sämtliche Antriebskomponenten noch einmal umschäumt wurden, wird man eher die Digitaluhr ticken hören, als dass ein Fahrgeräusch an die Ohren dringt. Weil es natürlich serienmäßig eine Luftfederung gibt, wähnt man sich wie auf Wolken gebettet, und mit der Hinterachslenkung verliert auch die Länge ihren Schrecken. So bekommt das Reisen eine neue Leichtigkeit. 

Leicht will es Mercedes dem Fahrer mit einem intelligenten Rekuperationsprogramm machen, das auf schlaue Art zum Verzicht auf das Bremspedal erzieht. Denn mit den Sensoren der automatischen Abstandregelung und den Daten zum vorausliegenden Streckabschnitt nutzt der EQS die E-Maschine genau in so einem Maß als Generator und damit als Bremse, dass die mechanische Verzögerung weitgehend überflüssig wird. 

Angeboten wird die elektrische S-Klasse zunächst in zwei Varianten: Als EQS 450+ kommt er mit einem Motor an der Hinterachse, der 245 kW leistet und den Sprint von 0 auf 100 km/h in 6,2 Sekunden ermöglicht. Wer den EQS 580 4matic bestellt, bekommt noch einen zweiten Motor im Bug und damit Allradantrieb. Die Systemleistung wird dann mit 385 kW angegeben und der Sprintwert liegt bei 4,3 Sekunden. Die Höchstgeschwindigkeit ist in beiden Fällen auf 210 km/h limitiert, und erst der bereits avisierte AMG wird auf 250 km/h kommen. 

Die Energie dafür liefert eine Batterie mit netto 107,8 kWh, die im besten Fall eine WLTP-Reichweite von 770 Kilometern ermöglicht. Das sind imposante Werte, die zumindest bis zum Debüt des überarbeiteten Model S die Spitze markieren und den Blick auf den Bordcomputer überflüssig machen. Denn eher ist die Blase eines der Insassen voll, als dass der Akku zur Neige geht. Und bei einer Ladeleistung von bestenfalls 300 Kilometern in zehn Minuten reicht schon ein kurzer Boxenstopp für lange, sehr lange Strecken. 

Wie auf Wolken gebettet und in Watte gepackt, in so viel Lack und Leder gehüllt, dass ein Model S fast schon schäbig wirkt und von einem eigens komponierten Raumduft umfächert, dabei für ihr Format dankt einer in dieser Form einzigartigen Hinterachslenkung ungeheuer handlich,  und mit einem Heer an Assistenten bis hin zum bald verfügbaren Level 3 für tatsächlich freihändiges Fahren so weit wie kein anderes Serienauto – damit verdient hat sich  der elektrische Luxusliner das S im Namen ohne Zweifel. 

Doch wissen auch die Schwaben, dass es in der neuen Welt mehr braucht als ein unerreichtes Maß an Fahrkomfort und schlaue Assistenten, um die Neugierde zu wecken und Pioniere wie Tesla auszustechen. Gelingen soll das vor allem mit dem Hyper-Screen. So nennt Mercedes die durchgehende Fläche aus einem bei 650 Grad leicht gebogenen Glas aus Aluminiumsilikat, die sich auf 1,41 Metern Breite beinahe von Tür zu Tür spannt und ein ähnlichen großen Aha-Effekt hat wie das fast vollkommen leere Cockpit eines Tesla: Es wirkt erfrischend neu und anders als alles, was bislang zu sehen war – und es polarisiert. Entweder man ist auf Anhieb hin und weg – oder man fühlt sich verloren in der Virtuellen Realität und ist dann dankbar, dass es den Hyperscreen nur als Option gibt. Auch bei der Aufpreis-Politik ist der EQS eben ganz S-Klasse.

Zwar hat der Erfolg von Model S und Taycan gezeigt, dass die Besserverdiener längst reif sind für den Wechsel in die neue Welt. Doch hat Mercedes auch berücksichtigt, dass die S-Klasse-Klientel womöglich etwas konservativer ist und erleichtert ihr deshalb buchstäblich den Umstieg – mit einem nahezu magischen Türkonzept. Denn sobald man sich dem EQS mit dem Schlüssel in der Tasche nähert, schwingen die Türen wie von Geisterhand – eine Lockung, der sich auch der größte Skeptiker kaum entziehen kann. Denn bequemer kann der Wechsel der Welten nicht gelingen.

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