Sie haben zwar die Krawatte längst abgelegt und trauen sich bisweilen sogar in Jeans und Sneakers ins Büro. Doch auf dem Parkplatz pflegen die Bosse nach wie vor eine strenge Kleiderordnung – zumindest bei deutschen Führungskräften stehen Audi, BMW und Mercedes unerreichbar vorn in der Gunst, und die Importeure tun sich entsprechend schwer. Aber man wächst mit seinen Aufgaben, denken sie offenbar in Paris und nehmen deshalb jetzt einen neuen Anlauf aufs Oberhaus.
Und wer, wenn nicht DS, die mit Abstand vornehmste Marke der Franzosen und dank Autos wie der DS21 oder dem Citroen SM wahrscheinlich auch die mit der besten Reputation bei den Reichen, könnte zumindest einen Achtungserfolg gegen Audi & Co erringen? Nachdem DS seit der Emanzipation von Citroen mit dem DS3 bei den Kleinwagen schon ganz ordentlich gegen A1 oder Mini punkten konnte, geht deshalb jetzt am anderen Ende der Skala der Skala zu Preisen ab 53.450 Euro der DS9 gegen Autos wie den A6, den Fünfer oder die E-Klasse ins Rennen. Trotz der Produktion in China mit reichlich Pariser Chic beladen, will er ein wenig Haute Couture ins Einerlei der Boss-Anzüge bringen und so zumindest frankophile Führungskräfte für sich gewinnen.
Mit einer Länge von 4,93 Metern und einem Radstand von 2,90 Metern passt das in fließenden Linien gezeichnete Stufenheck zwar perfekt ins Segment. Und reichlich Lametta sowie spektakuläre Scheinwerfer, auffällige Rückleuchten und Positionslampen auf Höhe der Heckscheibe wie einst bei der originalen DS werden wohl auch ein paar Blicke fangen. Doch wo das Original dereinst daherkam wie eine Göttin von einem anderen Stern, sieht der Neuner, wenn man ihn sich nackt und ohne Chrom vorstellt, vergleichsweise gewöhnlich aus und lässt jene Avantgarde vermissen, die man gemeinhin mit der Marke verbindet.
Das liegt nicht zuletzt an der Konzern- und Kostenraison. Schließlich führt Carlos Tavares das Stellantis-Imperium mit harter Hand und spitzem Stift und zwingt den DS9 damit auf die gleiche Plattform wie den Peugeot 508, so dass sich der Gestaltungsspielraum der DS-Mannschaft in engen Grenzen hält.
Dafür haben offenbar die Raumausstatter große Freiheiten genossen. Das Layout der Limousine mag zwar mit dem hohen Mitteltunnel sowie dem digitalen Cockpit mit animierten Instrumenten hinter dem Lenkrad und einem großen Touchscreen daneben noch vergleichsweise konventionell sein. Aber dafür überrascht der DS9 mit einem vornehmen Ambiente und viel Noblesse aus der Hauptstadt. Als wäre er nicht in einem nüchternen Entwicklungszentrum vor den Toren der Stadt konzipiert worden, sondern bei den Kunsthandwerkern in der luxuriösen Rue du Faubourg Sainte-Honoré, prunkt das Flaggschiff der Franzosen mit Ledernähten wie vom Sattler, mit Schaltern wie vom Juwelier und einer mechanischen Uhr, die sich per Knopfdruck aus dem Cockpit dreht – da können die Teutonen noch so große Tablets in ihre Autos zimmern, so viel Finesse findet man offenbar nur in Frankreich.
Schade nur, dass die Begeisterung spätestens dann nachlässt, wenn man den Startknopf drückt oder – sofern man in einem der rund 5.000 Euro teureren Plug-In-Hybriden sitzt – mal etwas fester aufs Pedal tritt. Denn dann meldet sich ein Benziner zum Dienst, der mit bescheidenen vier Zylindern und mageren 1,6 Litern Hubraum so gar nicht zur Oberklasse passen will. Und das gilt leider nicht nur für den Status und den Sound, den auch die Dämmverglasung reihum nicht ganz kaschieren kann, sondern auch für die Kraftentfaltung.
Selbst wenn dem in diesem Fall 180 PS starken Verbrenner ein 81 PS starker E-Motor zur Seite springt und am Ende immerhin die gleichen 225 PS Systemleistung im Fahrzeugschein stehen wie beim Einstiegsbenziner ohne E-Hilfe, ist der DS9 kein Souverän für die linke Spur. Nicht falsch verstehen: Natürlich ist das Auto nicht untermotorisiert, der Sprintwert von 8,7 Sekunden von 0 auf 100 geht halbwegs in Ordnung, in den allermeisten Fällen ist das Überholen keine Mutprobe und die 240 km/h Höchstgeschwindigkeit reichen im Rest der Welt für lebenslänglichen Führerscheinentzug. Doch wirkt der Wagen stets ein wenig angestrengt, der Frontantrieb kommt bei schlechtem Wetter an seine Grenzen und das Schnellfahren fühlt sich hier lange nicht so selbstverständlich und mühelos an wie bei den Vorbildern aus dem deutschen Süden. Und die elektrische Reichweite von 48 Kilometern ist mittlerweile auch nur noch gehobener Durchschnitt. Das wissen sie in Paris offenbar selbst und kündigen bereits zwei weitere Motoren an: So folgen später ein zweiter Plug-In mit 250 PS und 60 Kilometern elektrischer Reichweite und als sportliches Top-Modell ein Teilzeitstromer mit zwei E-Motoren. Der hat dann nicht nur 360 PS, sondern auch Allradantrieb und erfüllt damit ein weiteres wichtiges Kriterium für diese Liga.
Während sich das Auto spürbar anstrengen muss, um seinen Platz im Oberhaus zu erobern, können zumindest die Insassen ein wenig entspannen. Denn im Geist der Göttin haben die Franzosen einen hohen Komfortanspruch formuliert und werden dem mit ein paar aufwändigen Technologien gerecht: Wie bei Mercedes zum Beispiel in der S-Klasse scannt eine Kamera die Fahrbahn und liefert den Dämpfern so alle Informationen, um sämtliche Unebenheiten in vorauseilendem Gehorsam wegzubügeln. Die Sitze sind nicht nur besonders weich gepolstert, sondern verfügen sogar im Fond über eine Massage-Funktion, und natürlich ist vom Nachtsichtsystem bis zum Autobahnassistenten mit Längs- und Querführung alles an Bord, was das Technologieregal im Konzern so hergibt.
Zwar bringt DS mit dem Neuner ein bisschen frischen Wind in die Oberliga und viel französische Finesse. Doch werden sich die Franzosen mangels eines Diesels für Dauerläufer und eines souveränen Sechszylinders für Schnellfahrer zumindest in Deutschland arg schwertun. Von Renommee und Reputation ganz zu schweigen. Aber was sind schon ein paar deutsche Bosse gegen den prestigeträchtigsten Kunden, den eine französische Marke gewinnen kann? Während auf Vorstandsparkplätzen in Paderborn oder Potsdam also weiter Sterne, Ringe oder Nieren strahlen werden, steht an der ersten Adresse in Paris bald ein DS9 – vor dem Elysée-Palast. Denn Staatschef Emmanuel Macron hat seinen neuen Dienstwagen bereits bestellt.