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Lucid Air Sapphire: Limo mit Schuss

Die letzten werden die ersten sein – nach diesem Motto bringt Lucid den Air jetzt auch als Sapphire an den Start und fährt Porsche und Tesla damit lässig davon. Denn auch wenn das Start-up um den ehemaligen Lotus-Chefingenieur Peter Rawlinson der kleinste und der jüngste Anbieter im elektrischen Oberhaus ist und sich der Air erst so langsam im Straßenbild breit macht, machen Taycan und Model S gegen das neue Top-Modell der Kalifornier keinen Stich. Und Verbrenner ohnehin nicht. Schließlich kitzelt Lucid irrwitzige 1.254 PS aus dem einen Motor im Bug und den zweien an der Hinterachse und macht den Sapphire so zur stärksten Limousine der Welt. Zum Vergleich: Die Plaid-Version des Model S hat 1.034, der frisch geliftete Taycan Turbo S sogar nur 952 PS und auch wenn der jüngste Rocket auf Basis des AMG GT Viertürer der „stärkste Brabus aller Zeiten“ ist, stehen dort „nur“ 1000 PS im Fahrzeugschein. Von Autos wie dem Mercedes S 63 AMG, dem Audi S8 oder einem Bentley Flying Spur ganz zu schweigen.

Fotos: Hersteller

Entsprechend spektakulär sind die Fahrleistungen. Wer sich ans obere Ende der vier Fahrmodi durchschaltet und seine Batterie vorher erstens gut geladen und zweitens auf Wohlfühltemperatur gebracht hat, der erlebt eine Beschleunigung, wie sie selbst Bugatti-Fahrer nicht kennen – von 0 auf 100 in 1,89 Sekunden, da braucht es starke Nackenmuskeln und die Luft in der Lunge wird für ein paar Augenblicke ganz schön dünn, so tief drückt es den Körper beim Kickdown in die Sitze. 

Das Ganze ist beim ersten Mal um so spektakulärer, weil einen der Hammer ganz ohne Drama trifft und ganz ohne Vorwarnung: Wie aus dem Nichts spürt man einen Tiefschlag in der Magengrube, die Welt vor den Fenstern verwischt zu Schlieren und der Horizont geht auf Kollisionskurs. Aber genauso schnell nutzt sich diese Eigenschaft auch wieder ab, weil sie eben kein Erlebnis ist und außer der fast schmerzhaften Beschleunigung jedwede Begleiterscheinungen fehlen. Klar ist das Nervenkitzel, aber für die Sinne ist das nichts. 

Aber genau wie die Leistung ist auch der Sprintwert nur was fürs Autoquartett, und auch das Spitzentempo von 330 km/h ist eher theoretischer Natur. Worauf es wirklich ankommt, ist das, was dazwischen passiert – zum Beispiel auf einer kurvigen Landstraße wie den Canyons in den Hollywood Hills. Und da ist der Sapphire tatsächlich über alle Zweifel erhaben.

Obwohl der Wagen knapp fünf Meter lang ist und mehr als 2,5 Tonnen schwer und sich dabei weder den Luxus einer Luftfederung leistet, noch eine Hinterachslenkung nutzt, nimmt er die Landstraße genauso vergnüglich wie die Langstrecke auf Autobahn: Enge Kurven, verwinkelte Täler oder steile Pässe machen mit der großen Limousine überraschend viel Laune – da merkt man, dass Peter Rawlinson auch mal ein paar Jahre bei Lotus gearbeitet hat.

Und wenn man in den „Sapphire“-Mode wechselt, spannt die Limousine die Muskeln an und der Fahrer schärft besser seine Sinne. Erst recht, wenn er dann auch noch den Track-Mode aktiviert, sich die meisten Assistenzsysteme in die Pause abmelden und wahlweise für den Dragstrip, die Hotlap oder die Langstrecke auch noch die letzten Reserven mobilisiert werden. Eben noch brav und lammfromm und so komfortabel, wie man es von einem Luxusliner erwarten darf, wird die Limousine so erst zum Biest und dann zur Bestie, die sich vom Fahrer aber mit fester Hand an der kurzen Kette durch die Kurven treiben lässt.

Je länger das wilde Treiben dauert, desto mehr wundert man sich, dass dem Air bei diesem heißen Ritt nicht irgendwann die Puste ausgeht. Aber der Akku im Wagenboden hat eine rekordverdächtige Kapazität von 118 kWh und schafft im Normzyklus immerhin 687 Kilometer. Und selbst danach brüskieren die Amerikaner ihre Konkurrenten weiter: Als bislang einziges Auto mit 900 Volt-System ausgestattet, lädt der Sapphire mit bis zu 300 kW und ist deshalb auch an der Ladesäule von der schnellen Truppe: 15 Minuten reichen für 360 Kilometer. 

Zwar ist der Sapphire die stärkste Limousine der Welt und bietet mehr Fahrspaß als die allermeisten Konkurrenten, doch genau wie die Plaid-Version des Model S ist der PS-Protz deshalb trotzdem kein Auto für Angeber und begnügt sich im Gegensatz zu den Top-Versionen des Taycan oder gar den Tunern aus der alten Welt mit einem eher dezenten Auftritt. Außer den Aerofelgen und der kleinen Spoilerlippe auf dem Heckdeckel gibt es deshalb nichts, was auf die tickende Zeitbombe hinweist, die da nur einen Schattenwurf auf dem Gaspedal entfernt dahin gleitet und stets bereit ist, allem und jedem davon zu fahren. 

Offiziell ist der Sapphire bislang noch ein Spitzentrumpf, der den Amerikanern vorbehalten bleibt. Aber das erste Exemplar hat es bereits nach Europa geschafft und steht nächste Woche auf dem Genfer Salon. Eilige Elektriker dürfen sich also zurecht Hoffnung machen, dass dem Messemodell auch ein paar Kundenfahrzeuge folgen werden – und können schon mal mit dem Sparen anfangen. Denn der Sapphire ist nicht nur die stärkste Elektrolimousine am Markt, sondern fährt Porsche und Tesla mit 250.000 Euro auch beim Preis davon. 

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