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Mercedes EQS SUV: Goliaths gutes Gewissen

Von wegen SUV geht nur mit schlechtem Gewissen: Für den ersten Audi e-tron und den Mercedes EQC mag das noch gelten, weil das eher schlechte als rechte Umbauten bestehender Verbrenner waren. Doch  mit dem Model X und dem iX haben erst Tesla und dann BMW den Besserverdienern ein wenig Balsam auf die geschundene Klima-Seele geträufelt und jetzt gibt’s auch von Mercedes moralische Entlastung für das Heer der SUV-Fahrer. Denn nach den Limousinen EQS und EQE bauen die Schwaben auf ihrer hoch gelobten Akku-Architektur jetzt ihr erstes SUV und stellen dem GLS im letzten Quartal das EQS SUV zur Seite.  Billig wird das gute Gewissen allerdings nicht. Nachdem schon die Limousine kaum unter 100.000 Euro zu haben ist, darf man den Grundpreis des EQS auf Stelzen locker auch 115.000 Euro schätzen. 

Auch wenn der EQS als SUV höher steht, mit der serienmäßigen Luftfederung sogar noch weiter aufgebockt werden kann und tatsächlich ein Offroad-Programm bietet, will der 2,5 Tonnen schwere Koloss freilich erst einmal ein vornehmer People-Mover sein: Zu der bei acht Zentimetern mehr Sitzhöhe bequemeren Zustieg und der besseren Übersicht gibt es deshalb vor allem üppigere Platzverhältnisse im Fond: In der zweiten Reihe sitzt man dank rund 20 Zentimeter höherem Dach und verschiebbarer Rückbank noch etwas bequemer als in der Limousine und der Kofferraum hinter der aufrechten Klappe ist mit seinen bis zu 2.100 Litern Fassungsvermögen so groß, dass Mercedes dort auf Wunsch eine dritte Sitzreihe einbaut. So wird das EQS SUV zur vornehmen Alternative zu dem doch etwas nüchternen und vor allem noch größeren EQV oder dem für Hinterbänkler jenseits der Vorschule schwer zumutbaren EQB. Und auch wenn das Ambiente ganz ähnlich ist wie in der Limousine, hat Mercedes für den Hyperscreen ein zum familienfreundlichen Fahrzeugkonzept passendes Update: Erstmals darf der Sozius auf seinem Bildschirm nun auch während Filme oder Fernsehen schauen, weil die Kamera den Blick des Fahrers im Auge hat und so sicherstellt, dass der seine Augen immer auf der Straße hat. 

Auch wenn der Zuschnitt neu ist, steckt unter dem Blech freilich die bekannte Technik. Das gilt für den Triebstrang und die netto 108 kWh große Batterie genau wie für die Luftfederung und natürlich die Hinterachslenkung mit bis zu elf Grad Einschlagwinkel, die damit erstmals bei Mercedes auch in einem SUV zum Einsatz kommt. Überraschend ist allerdings, dass sich die Schwaben dabei fast sklavisch an das Line-Up der Limousine halten und deshalb auch das SUV als EQS 450+ 360 PS und Hecktriebler anbieten, nur weil dann die Reichweite bei imposanten 660 Kilometern liegt. Wer den 450er als 4Matic bestellt, fährt ebenfalls mit 360 PS, die sich allerdings auf zwei Motoren verteilen – und kommt dann im besten Fall 613 Kilometer weit. Vorläufiges Flaggschiff wird der EQS 580 mit 544 PS, obligatorischem Allradantrieb und ebenfalls bis zu 613 Kilometern Reichweite. 

Wer im Vorfeld der von der Pandemie verhinderten Livepremiere in Peking eine Runde mit den Prototypen dreht, erlebt das 5,13 Meter lange SUV der Hinterachslenkung sei Dank als überraschend handlich und schneidet schnittiger durch die Kurven, als man es so einem Koloss zutrauen würde: Die lange Linke, die beiden kurzen rechten Haken und das schnelle S nimmt der GLS für die Generation E deshalb so leicht, als hätten sie uns heimlich einen von den GLC-Prototypen untergejubelt, der womöglich zum letzten Mercedes-SUV für die alte Welt wird. Und selbst der Spurwechsel auf der schnellen Geraden zwischendrin bringt den Riesen nicht aus der Ruhe, weil dann die Hinterräder in der Gegenrichtung einschlagen. Und wem das alles zu langweilig, weil vorhersehbar ist, den schicken die Ingenieure nochmal über den Kurs und aktivieren vorher den Sportmodus, der ein paar Grade mehr Driftwinkel zulässt und entsprechend mehr Puls bringt. Alternativ gibt es auch noch ein Offroad-Programm mit modifizierter Traktionskontrolle und erhöhter Bodenfreiheit. Das taugt zwar laut Mercedes nur für „leichtes Gelände“, dürfte den EQS aber trotzdem weiterbringen, als es sich je ein Akku-Fahrer getraut hat. Erst recht auf blank polierten 22-Zöllern. Nicht umsonst zeigen die Entwickler stolz Fotos ihrer Prototypen beim Schneewalzer am Polarkreis, auf Dschungelpfaden ums Werk in Tuscaloosa  oder in der Wüste von Nevada.

Zwar spricht vieles dafür, dass der EQS das bislang beste elektrische SUV aus Stuttgart wird – schon allein weil es das erste ist, dass die Schwaben auf ihrer ersten dezidierten Akku-Architektur aufbauen. Aber auch wenn sich die Schwaben große Hoffnungen auf einen üppigen Verkaufsanteil machen, kann der EQS freilich nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Muss er auch nicht. Denn er bekommt ja bald Begleitung: Zum Jahreswechsel gibt’s für Kunden mit etwas knapperen Kassen auch einen geländegängigen Ableger des EQE und wer noch mehr Glanz und Gloria braucht, der bekommt spätestens Mitte 2023 auf Basis des EQS SUV auch den ersten elektrischen Maybach. Und wer es ernst meint mit Matsch und Modder und sein SUV nicht wegen des erhöhten Alltagsnutzens kauft, sondern wegen der Sehnsucht nach Abenteuer, für den haben die Schwaben auch noch was in petto: In spätestens drei Jahren kommt eine voll elektrische G-Klasse.

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