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Kia EV6 GT: Tesla-Jäger? Porsche-Jäger!

Technologie und Leistung der Oberklasse zu einem fairen Preis: Der Kia EV6 GT komplementiert das Car of the Year 2022 gelungen nach oben hin.

Weil er kein Sportwagen ist, fuhren wir zuerst auf die abgesperrte Strecke.

Folgende, kognitive Dissonanz: Dir wird bei der Pressekonferenz eingetrichtert, dass der neue Kia EV6 GT kein Sportwagen sein will, sondern ein Gran Turismo, was logisch ist, weil er ja ein GT im Namen hat. Keine zehn Minuten später dann aber der erste Programmpunkt: Abgesperrte Strecke plus Erprobung des Driftmodus. Kein Sportwagen also, aha. Jedenfalls: Um den Driftmodus zu aktivieren, ist ein Informatik-Abschluss von Vorteil. Paddles ziehen, da ein Knopf, dort ein Schalter – die Koreaner machen es einen nicht einfach. Aus gutem Grund: So gut wie alle Kollegen – inklusive mir natürlich – verlieren beim Driftversuch das Heck und drehen sich wie ein Kreisel. Aber gut, wundern darf einen das nicht. Immerhin sorgen zwei Elektromotoren – einer für jede Achse – für 585 PS. Und 740 Nm ab eigentlich immer sind halt auch ein Wort.

Weitere Stammtischwerte: 3,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h, 260 km/h Höchstgeschwindigkeit. Man schreibt das so salopp, liest es vielleicht auch so, aber wenn man kurz innehält, diese Zahlen auf sich wirken lässt, dann wird einem erst die Absurdität dieser bewusst. Fast 600 PS – in einem Kia! Stell dir vor, du fährst deinen BMW M850i auf der deutschen Autobahn aus, und von hinten drängt dich ein Auto jener Marke auf die rechte Spur, die auch den e-Soul baut. Es sind verrückte Zeiten.

Rotation um die Querachse, ausgelöst durch eine Änderung des Bewegungszustands, demonstriert vom Kia EV6 GT.

Anderseits: Schon mit dem Kia Stinger haben es die Koreaner mit BMW 4er Gran Coupé und Co. aufgenommen, jetzt hievt man sich mit dem EV6 GT halt auf das Level der Top-Elektriker. Taycan, e-tron GT, EQS AMG – rein vom Vorwärtsdrang sind das seine Konkurrenten. Mit einer Länge von knapp unter 4,7 Metern ist er eigentlich im Segment von Skoda Enyaq, Mercedes EQB und, klar, dem Tesla Model Y, verankert.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Elektromobilität Leistungsorgien vereinfacht. Hat man früher für so viel Power noch einen komplexen Achtzylinder entwickeln müssen, so kitzelt man 585 PS heute mit weit weniger Aufwand aus zwei Elektromotoren. Nicht falsch verstehen: Einfach mit ein bisserl Software aus dem Ärmel geschüttelt hat sich Kia die Pferdchen nämlich nicht. Die Spulen haben zum Beispiel eine eigene Ölkühlung und es gibt einen neuen Inverter.

Doch selbst wenn man aufgrund der Antriebsgattung die Leistung relativiert, was kaum mehr möglich ist, nachdem man mal einen Launch-Control-Start erlebt und sich in 3,5 Sekunden auf Tempo 100 katapultieren hat lassen: Der Kia EV6 GT ist auch in anderen Bereichen technische Oberklasse. Er rekuperiert zum Beispiel mit einer Leistung von 300 kW. Bei Taycan und EQS sind es aktuell 290 kW. Und dann hast du natürlich die 800-Volt-Architektur, die diesseits von den Konzerngeschwistern Genesis und Hyundai ohnehin nur Audi e-Tron GT und Porsche Taycan bieten.

Zur Abwechslung: Ein stehender Kia EV6 GT.

Bei Optimalbedingungen beträgt die Ladeleistung bis zu 240 kW, von 10 auf 80 Prozent geht’s so in nur etwa 18 Minuten. Optimal sind Bedingungen im echten Leben selten, unter Realbedingungen hat Kollege Stantejsky den zivileren Kia EV6 bei seinem Roadtrip in 50 Minuten von 9 auf 100(!) Prozent geladen. Apropos zivil: Optisch artet der EV6 als GT nicht aus. Was auch nicht notwendig ist, immerhin ist er ja auch schon in der Basisversion ein äußerst sportiv gezeichnetes Auto. Beim GT kommen zusätzlich eine neue Frontschürze, ein Heckdiffusor und neonfarbene Bremssättel dazu.

Ein Heckdiffusor, Neon-Bremssättel – Kia den EV6 GT nur technisch eskalieren lassen.

Vier Kolben haben diese vorne und drücken bei Bedarf und Befehl auf den Bremsbelag, der dann wiederum auf die Scheibe drückt, die – und jetzt kommen wir zum Punkt – innenbelüftet ist und einen Durchmesser von 380 Millimetern hat. Hinten sind’s 360 Millimeter. Resultat: Die knapp unter 2,2 Tonnen sind so schnell verzögert wie beschleunigt.

Aber wie eingangs erwähnt: Sportwagen will er ja ohnehin keiner sein, sondern – wie ja schon der Name verrät – ein Gran Turismo, ein Reisewagen. Wie weit die Reise aber ohne Ladestopp geht, hängt vor allem von der Fahrweise ab – und vom Wohnort. In Schweden, wo Kia den EV6 GT präsentierte, haben wir den offiziellen Verbrauch von 20,6 deutlich unterboten, die 424 Kilometer WLTP-Reichweite wären easy drin gewesen. Auf der deutschen Autobahn, wenn man mit zehn km/h Überschuss an all den BMW M3– und Audi RS 6-Fahrern vorbei huscht, die sich irgendein Drivers Package nicht mehr leisten konnten, wird sie sich wohl eher nicht ausgehen.

Überhaupt tut sich hier, bei der Reichweite und der Akkukapazität, der größte Unterschied zwischen der elektrischen Oberklasse und dem Kia EV6 GT auf. Denn erstere bietet Kapazitäten von 100 und mehr kWh an, der Kia wartet allerdings „nur“ mit 77,4-kWh-Batterie auf. Da hilft halt auch die schiere Größe von EQS und Konsorten. Anders verhält es sich mit dem Platzangebot im Innenraum: Das ist im Kia EV6 GT mehr als üppig, 2,9 Meter Radstand sind halt auch E-Klasse-Niveau. Kofferraumvolumen: 480 Liter.

Die digitale Mittelkonsole wartet mit zwei Anzeigeoptionen auf.

Das Interieur-Design des GTs unterscheidet sich von den anderen EV6 durch Neon-Akzente, einem sportlicheren Lenkrad und Sitze, die wegen ihrer Materialqualität (Velourleder) und dem gelungenen Spagat zwischen Seitenhalt und Komfort ein Extra-Lob verdienen. Ein solches gibt’s auch für die Bedienleiste unter dem Warnblinker. Sie zeigt wahlweise „Tasten“ für die Klimaanlage oder den Radio an – ein Vorzeigebeispiel, wie man das Potential der Digitalität nicht nur voll, sondern auch sinnvoll ausschöpft.

Extra-Lob für die Sitze: Hochwertig und mit ordentlicher Beinauflage.

Insgesamt bietet der Kia EV6 GT mit seinen großteils hochwertigen Materialien, dem feschen Design, der intuitiven Bedienung und dem fabelhaften Platzangebot einen Raum zum Wohlfühlen, einen Raum, in dem man gerne länger verweilt, und das ist bei einem GT ja durchaus wichtig. Ebenso wie ein ordentliches Fahrwerk: Zwar ist der Kia EV6 GT straffer geworden und liegt einen halben Zentimeter näher am Asphalt, aber die Federn bügeln Unebenheiten weiterhin sehr ordentlich weg. Dazu spendiert Kia eine angenehm direkte Lenkung, die außerdem variabel ist, also bei niedrigen Geschwindigkeiten leicht-, bei höheren Geschwindigkeiten schwergängiger ist. Und das serienmäßig.

Womit wir bei Fazit und Preis angekommen sind: In vielen Bereichen wartet der Kia EV6 GT mit Technologien und Leistungen auf, die man sonst nur bei sehr viel teureren Fahrzeugen bekommt. In den Bereichen, in denen er das nicht tut, gibt’s immerhin auch noch Durch- bis Überdurchschnittliches. Und das alles bei einem Einstiegspreis von 75.790 Euro. Das mag anfangs teuer wirken. Doch während man beim Skoda Enyaq RS (299 PS, ca. 10.000 Euro günstiger) für Wärmepumpen, Assistenzsysteme und Co. extra zur Kasse gebeten wird und optionale Ausstattungen deutscher Oberklasse-Fahrzeuge an Zahl der Unendlichkeit Nahe sind, ist der Basispreis des Kia EV6 GT quasi der Maximalpreis. Allein das macht ihn sympathisch.

Maximilian Barcelli

Bei 7.000 Touren beginnt der Spaß für den mehr begeisterten denn begnadeten Autofahrer.

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